Teil 1:

Bonjour Elvire,

danke für den Text von Paolo Moura. Das Problem, das ich damit habe, ist weniger, dass mir das dort Geschilderte gar so übertrieben oder unrealistisch erschiene – was mir hingegen sehr schwer fällt: nachzuvollziehen, was in den Köpfen dieser Illegalen vorgeht, die um jeden, aber auch wirklich jeden Preis nach Europa zu gelangen versuchen – was angesichts dessen, was sie dafür zu erdulden bereit sind, wie eine Art Besessenheit anmutet...

Reicht die diesen Menschen vielfach zugeschriebene Kombination von Blödheit, Naivität u. dem Wunsch nach einem materiell „besseren“ Leben denn aus, diesen unbedingten Willen zu erklären, nach Europa zu gelangen, koste es, was es wolle? Ich glaube: nein.

Ein paar zusätzlich Erklärungen u. Motive finden wir in einem letztes Jahr in der „Zeit“ erschienenen Artikel:

http://www.zeit.de/2003/45/Tanger

Ein paar Auszüge:
„Die Odyssee von Patricia Omorigie, 27 Jahre alt, begann im Januar 2001. Zweimal wurde sie verraten, einmal ist sie fast verdurstet, sie wurde festgenommen, sie hat sich den Fuß gebrochen. „This road is bloody“, sagt Pat, diese Route ist durchtränkt mit Blut.

Sie kennt Nigerianer, die von anderen Nigerianern gefoltert wurden, weil sie ihre Schulden nicht bezahlen konnten. Eine ihrer Freundinnen wurde vor einem halben Jahr entführt, 7000 Euro sollen ihre Eltern für sie zahlen.

Pat sagt: „Früher war ich entspannter. Freier. Früher musste ich mir nie Sorgen darüber machen, wo ich schlafe oder was ich esse. Früher haben Charles und ich uns nie gestritten. Jetzt streiten wir uns oft. Dieses Leben in Marokko ist kein Leben.“[...]

„Anfangs war es eine marokkanische Mafia, die Schwarze aus ganz Afrika in wackeligen Holzbooten transportierte. Mit der Zeit übernahmen Nigerianer einen Großteil des Geschäfts, man stieg um auf riesige schwarze Schlauchboote, für 40, 50 Passagiere. Migranten aus Ghana, dem Senegal oder Kamerun sah man immer seltener in Tanger. Sie wichen aus auf andere Routen. Über Tarfaya auf die Kanarischen Inseln, von Tunis nach Lampedusa.

Dafür kamen immer mehr Nigerianer: Victor, ein Autoschlosser, dessen Werkstatt schlecht lief; Vincent, der fünf Jahre studierte, keinen Job fand und nun nach „grüneren Weiden“ sucht; Steven, der das Auto seines Vaters verkaufte, um die Reise zu bezahlen; Stanley, ein Soldat, der desertierte; Efosa, der nicht weiterkam als Kunstschnitzer; Liliane, die es zum zweiten Mal versucht, obwohl sie in Aachen ein halbes Jahr im Abschiebeknast saß; Osas, der beweisen will, dass er ein Mann ist; Matthew, der Dealer war und wieder Dealer werden will; Godfrey, der Autofahrer überfiel und floh, als die Polizei seine halbe Gang erschoss; Osatu, die von zu Hause ausgerissen ist; Derek, ein Ingenieur mit höflichen Manieren. Sie alle kommen aus Nigeria. Sie alle stammen aus der gleichen Gegend. Aus Edo-State, aus dem Süden des Landes, aus Benin City und Umgebung. Pat kommt daher, Charles auch, genau wie Bright, ihr patron.

Noch immer glauben viele, dass es vor allem Armut ist, die Menschen aus ihrer Heimat fortziehen lässt. Doch Migration hat viele Gründe, und Armut ist nicht der wichtigste. Entscheidend sind Netzwerke, Informationen, Kontakte. Kein Mensch zieht einfach los ins Blaue, es zieht ihn dorthin, wo Nachbarn, Freunde, Geschwister von ihm hingegangen sind. Migranten suchen Sicherheit. Und meist sind es die relativ Bessergestellten, die sich entschließen auszuwandern. Sicher sind Arme an Bord der Schlauchboote, aber auch viele andere: Ehrgeizige und Abenteurer, Skrupellose und Listige, junge Handwerker und arbeitslose Akademiker.

„In Benin City gibt es keine Straße, aus der nicht jemand kommt, der jetzt upstairs ist“, sagt Pat. Upstairs. Oben. In Europa.““[...]

„Im Grunde begann ihre Reise an jenem heißen Tag, an dem sie sich frühmorgens vor dem deutschen Konsulat in Lagos anstellte, die Einladung ihres Bruders in der Hand – und ihr Gesuch um ein Visum abgewiesen wurde. Bald fand ihr Bruder einen anderen Weg, sie nach Deutschland zu holen: Pat sollte mit einem gefälschten Visum von der Elfenbeinküste nach London fliegen. Am 4. Januar 2001 bestieg sie den Bus in Nigeria, ihre Mutter weinte beim Abschied, aber Pat machte sich keine Sorgen. Ihre Reise würde kurz und sicher sein.

Doch in der Elfenbeinküste angekommen, verschwand der Mann, den sie bezahlt hatte. Pat saß fest in Abidjan, ohne Geld, ohne Visum. Aber sie blieb, sie wollte weiter. So lernte sie Charles kennen. Er war vom selben Schlepper betrogen worden. Charles hat die Statur eines Boxers und ein großes Herz. Sie wurden ein Paar.

4000 Euro hatte Pat verloren. Es gab nur eine Möglichkeit – sie und Charles mussten den gefährlichen Landweg nehmen. Von Mali nach Marokko, quer durch die algerische Sahara. Zwei Jeeps, 40 Passagiere, nachts fahren, tagsüber ein Versteck suchen, vor der Sonne und den Helikoptern. Eines Morgens fuhren die Jeeps davon, als es Abend wurde, kamen sie nicht wieder. Die Reisenden saßen fest, mitten im Nichts, verloren im Erg Chech.

Zu acht sind sie dann losgelaufen, nachts, auf einen fernen Lichtschein zu. Sie fanden leere Kanister, stießen auf eine Viehtränke, trafen Reisende, die ihnen Brot gaben. 20 Nächte sind sie gewandert, Pat hatte blutige Füße, Charles stützte sie, so erreichten sie schließlich Reggane, ein Dorf im hintersten Winkel Algeriens.

Pat könnte vom Durst reden. Von ihrer harten Kehle, von ihrer geschwollenen Zunge, vom ekligen Geschmack im Mund, vom rasselnden Husten. Aber so spricht sie nicht. Sie sagt schlicht: „Das war das Schlimmste, was ich je erlebt habe. Ich dachte, ich muss sterben.“

„Eines Tages werden wir unseren Kindern erzählen, was wir alles durchgemacht haben“, sagt Charles.

Die Reise ging weiter. Die Grenze nach Marokko überquerten sie zu Fuß, bis Tanger wurden sie in Lastwagen gebracht. Pat hätte ein Schlauchboot nehmen können, aber ihr Bruder in Deutschland hatte Probleme, der Geldfluss versiegte, wieder saß Pat fest. Zu stolz, um umzukehren, vorerst ohne jede Chance, weiterzureisen.

Ein halbes Jahr war Pat in Tanger, da wurde sie verhaftet. Lange Jahre hat Marokko die Afrikaner einfach durchziehen lassen, doch auf Bitten, Drängen und Drohen der EU wirkt auch die Regierung in Rabat inzwischen mit bei der Verteidigung der Festung Europa. Aber wie planlos, wie dilettantisch! Auf Straßen, in Wäldern und Pensionen fangen die Gendarmen die Schwarzen und bringen sie zurück an die algerische Grenze, die seit Jahren geschlossen ist. Im Niemandsland zwischen Oujdah und Maghnia werden die Afrikaner dann aus dem Bus gestoßen. Run! Run!, rufen die Marokkaner und heben ihre Gewehre, lauft dahin, wo ihr hergekommen seid!

Pat ist gelaufen. Die Frauen wussten, was sie nun erwartet, sie wollten es um jeden Preis vermeiden. Sie warfen ihre künstlichen Haarteile weg, sie wälzten sich im Dreck, sie ließen sich die schäbigsten und stinkendsten Kleider von den Jungen geben und sanken stöhnend zu Boden, als die algerischen Soldaten sie in Empfang nahmen. Als wären sie krank. Denn jene Soldaten sind bekannt dafür, dass sie die schwarzen Frauen vergewaltigen, bevor sie sie nach Marokko zurückschicken.

Pat wurde nicht angerührt. Die Maskerade wirkte. 100 Dollar kostete die Fahrt zurück nach Tanger, nachts in einem geschlossenen Lastwagen. Dort angekommen, geschah bald ein weiteres Debakel. Pat brach sich den Fuß. Es passierte, als sie eines Nachts der Polizei davonlief, als sie von der Dachterrasse aufs Nachbarhaus springen wollte. Im Krankenhaus bekam sie einen Gips und zwei Krücken, aber der Bruch ist nicht richtig verheilt. Bis heute benutzt sie die Krücken. Einerseits, weil das eine perfekte Tarnung ist und sie vor weiteren Abschiebungen schützt. Andererseits, weil ihr Fuß bis heute wehtut.“[...]

„Manchmal denkt Pat, dass sie einen Fehler gemacht hat. Dass sie nicht hier sein sollte. Dann sehnt sie sich zurück nach Lagos, in ihren Laden, zu ihrer Familie, in die chaotische Ereignislosigkeit ihres Alltags.

Doch nicht lange, und sie erliegt wieder dem Sog, der von Europa ausgeht. Sie hat ein Ideal: Sie will eine gute Tochter sein. Sie will einmal für ihre Mutter sorgen. Als ein Niemand ist sie aufgebrochen, sie würde es sich nicht verzeihen, mit leeren Händen umzukehren. Sie weiß, wie viele es vor ihr geschafft haben, alle daheim wissen das. „Würde ich abgeschoben, ich würde es auf jeden Fall noch einmal versuchen“, meint Pat.“[...]