Fremdes Familienmitglied

Dass du in unsere Familie kamst, war nie geplant. Du warst einfach anders. Jemand wie du. Ja klar. Aber warum bei uns? Warum in unserer Familie? Und wenn du schon da bist, solltest du dich anpassen, nicht auffallen, auf keinen Fall einen zu großen Platz einnehmen oder eine eigene Meinung haben.

Die Jüngste war es, die kam und sagte, sie wolle jemanden wie dich. Wir nickten und reagierten nicht auf sie. Sie würde diesen Wunsch schon irgendwann vergessen. Sie war viel zu jung, um es zu verstehen. So ging das Jahr um Jahr. Immer wieder bat sie uns, jemanden wie dich in die Familie zu lassen. Einige hatten nichts dagegen, wenn du dann gehorchen würdest, nichts durcheinander bringen würdest. Einige hoben den Finger und sagten, das passt nicht. Sie würde dich irgendwann vergessen und dann würdest du uns unsere Zeit stehlen, uns auf der Tasche hängen. Aber sie ließ nicht locker.

So entstand der Beschluss. Wenn sie es wirklich will, sollte sie in ihrer Freizeit dorthin gehen, wo ihr lebt. Bei euch sein und denen helfen, die ihre Hilfe brauchen. Sie sollte das ein Jahr lang tun und wenn sie dann noch will, würden wir über den Weg reden. Keiner von uns hätte gedacht, dass sie es wahr macht, geschweige denn ein Jahr aushält. Es war auch nie die Rede davon, dass sie ihre gesamte Freizeit dort in eurem Heim verbringen soll. Aber sie zog das durch, wie eine Erwachsene. Eure Heime werden immer irgendwo auswärts gebaut, damit ihr die Allgemeinheit nicht so belastet mit eurem Anblick. Wer will schon das Elend und den Krach in seiner Nähe haben. Soll doch alles immer schön sauber und ruhig sein. Solche wie ihr will niemand. Keiner will darauf aufmerksam gemacht werden, dass es Gewalt und Ignoranz auf dieser Welt gibt.
Sie zog es also durch. Ging jede freie Minute in euer Heim. Manchmal kümmerte sie sich um einen von euch besonders, half ihm einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Manche kamen zurück, weil es für sie zu schwer war, sie nicht akzeptiert wurden. Andere wiederum haben den Schritt hinaus in die Freiheit geschafft. Wieder andere waren zu krank und starben, ohne jemals ein zu Hause zu finden.
Ich begann Hochachtung zu empfinden vor diesem Kind. Diese Stärke, diese Willenskraft, diese Professionalität, die sie an den Tag zu legen begann! Sie war erfolgreich in diesem einen Jahr. Alle, um die sie sich kümmerte, fanden den Weg hinaus aus dem Heim, fanden einen Platz, an dem sie leben konnten. Obwohl sie freiwillig dort und Kind war, bekam sie inzwischen Aufgaben, wie eine Erwachsene.
Manchmal war es schwer für sie. Sie war gestresst von der Schule, den Rassisten, denen sie ausgesetzt war, nur weil sie etwas anders war, ihre Haare anders trug. Rassismus, existiert selbst dort, wo sich nur bio-deutsche treffen. Wenn es keine Juden, Moslems oder Schwarze mehr gibt, kommen die Behinderten, Alten, Homosexuellen, Punks... Rassismus bahnt sich immer einen Weg. Sie musste auch lernen für ihren Abschluss. Schließlich war der Beruf, den sie für sich wählte, sehr beliebt. Sie musste sich von den anderen unterscheiden, besser sein. Nach den langen, anstrengenden Tagen und Wochen vergaß sie euch nie. Egal wie die Woche für sie lief, am Wochenende und in den Ferien war sie wieder bei euch.

Pünktlich nach einem Jahr stand sie vor uns und erinnerte uns an das Versprechen. Sie wollte jemanden wie dich. Man darf seine Versprechen nicht brechen und die Richtlinien für die Auswahl begannen: Nicht zu alt, nicht zu groß, ruhiger Typ, darf nicht gefährlich aussehen, keine langen Haare...
Aber was ist nicht alt, was bedeutet groß, ruhig, gefährlich? Wir hätten drüber diskutieren sollen...
Es kam wie es kommen musste. Sie stand vor dir, schaute dir in die Augen... Es war Liebe auf den ersten Blick. Sie wollte dich und du wolltest sie. Sie besuchte dich täglich. Niemand durfte sie begleiten. Schon nach einer Woche waren alle Untersuchungen abgeschlossen, die Papiere fertig und du kamst zu uns.
Zehn Jahre warst du jetzt bei uns. Du hast dir jeden Platz in dieser Familie erobert, den es zu erobern gab. In deinen Papieren bestätigten sie dir offiziell, dass du gefährlich seist. Ich muss heute noch lächeln, wenn ich daran denke, wie ruhig du warst. Beim Anblick von Waffen wurdest du laut, warst kaum zu beruhigen. Alle mochten dich: wir, die Nachbarn, Freunde... Du hattest jedes Sonderrecht, dass wir dir zugestehen konnten. Manchmal vergaßen wir, dass du eine andere Rasse warst, anders warst als wir. Du warst ein Mitglied in unserer Familie.

Sie ging fort, ein neues Leben zu beginnen. Du bliebst. Wenn sie Zeit hat, besucht sie uns. Du warst immer der erste, der sie empfing und bekamst die längste Begrüßung. Jedes Mal wenn sie ging, warst du ein paar Tage traurig. Jetzt wollte sie wieder kommen. Hat sich schon so sehr auf dich gefreut. Wir haben es dir nicht erzählt, um dich nicht durcheinander zu bringen. Denn mit unserer Sprache tatest du dich schwer. Du hast sie nie richtig begriffen, nur eines wusstest du: Bei uns warst du sicher. Aber du wurdest krank. Bitte, dachte ich, halte nur noch die drei Wochen durch. Dann brachst du plötzlich zusammen, konntest nicht mehr laufen. Kurz entschlossen fuhr ich dich zum Arzt. Ich dachte, eine Spritze und du würdest wie immer wieder oben auf sein. Aber dieses Mal war es anders. Deine Gliedmaßen waren kalt, dein Atem flach, du konntest nicht stehen, deine Beine versagten den Dienst. Der Arzt war ernst. Schüttelte den Kopf. Ich schrie: "NEIN!!! Es muss einen Weg geben! SIE kommt in zwei Wochen." Der Arzt sah mich an: "Er würde sich nur quälen. Ich könnte eine Infusion legen. Aber er müsste laufen, damit sein inzwischen viel zu großes Herz den Sauerstoff und die Medizin in den Kreislauf pumpt. Er hat Wasser in der Lunge und im Bauch. Seit seinem letzten Zusammenbruch bekommt er alle Medizin, die möglich ist. Ich könnte ihnen einreden es hilft aber..." Diese Worte sprach er nicht zu Ende. Er legte alles bereit für die Infusion und auch alles für den letzten Weg. Telefonate gingen hin und her. Ich hörte sie weinen am anderen Ende des Telefons: "Nein, wir müssen ihn gehen lassen. Er quält sich nur." Ich erinnerte mich, wie sie vor ein paar Wochen zu mir sagte. Es kann sehr schnell gehen. Ich antwortete optimistisch: Wenn du nächstes Mal kommst wird er fit sein.

Nun musste ich die letzte Entscheidung treffen. Deine Beine waren nicht mehr durchblutet, sie waren kalt, dein Körper, der sonst immer heiß wie ein Backofen war, fühlte sich lauwarm an. Ab und zu versuchtest du den Kopf zu heben, doch er sank immer wieder auf den Behandlungstisch. Ich nickte dem Arzt zu. Es gab Schwierigkeiten, deine Venen zu finden. Ich hatte Angst, dass du Schmerzen spürtest. Aber du reagiertes nicht. Deine Beine waren schon abgestorben. Du schliefst ein, während ich dir aufmunternde Worte und Lobe ins Ohr flüsterte. Nein, ich belog dich nicht. Ich sagte nur nicht, was auf dich zu kam. Du vertrautest mir und warst ruhig.
Die nächste Spritze lag bereit, eine noch tiefere Narkose, von der du nicht zurückkehren würdest. Wieder und wieder schüttelte ich den Kopf, als der Doc die Spritze ansetzen wollte. Ich wollte sicher sein, dass du tief schliefst...

Dann war es vorbei.

Du warst anders, eine andere Rasse, du konntest gefährlich sein, warst es nie. Du solltest in diesem Heim verrotten, aber sie hat dich gerettet. Du hast viel für unsere Familie getan und warst ein Teil von ihr. Du warst schwarz, gefährlich, manchmal laut und ausgelassen, du hast Einfluss auf unsere Familie genommen und dir deinen Platz in ihr erobert.

Ja, er war ein Asylant, ein Ausgestoßener, ein Ungewollter. Er war eine andere Rasse.



Hast du beim Lesen wirklich die ganze Zeit sicher gewusst, wer unser Familienmitglied war? Hast du nicht einmal den Verdacht gehabt, es könne sich um einen Menschen handeln?
Aber wie behandeln wir Menschen? Wie denken wir über sie? Wie gehen wir mit unserer eigenen Art um? Wie ist es möglich, dass Menschen für Geld, Macht, territoriale Ansprüche, Rohstoffe... töten? Was tun wir dagegen, als zuzuschauen und diese Kriege im Fernsehen zu beobachten? Sind unsere Gedanken wirklich frei von Rassismus? Was tun wir für die, die sich hoffnungsvoll an uns wenden, weil sie vor Krieg und Gewalt fliehen? Wie schwer tun wir uns, wenn jemand, der anders ist, in unsere Familien kommt? Respektieren wir Anderssein?


in Memory of a Pit Bull


Ein weißes Schaf
in einer schwarzen Herde
ist auch ein schwarzes Schaf.




When the rich wage war
is the poor who die.
LP