Marrakesch - Die rote Stadt

Am 29. Mai 2001 wurde der Djemma el-Fna zum Weltkulturerbe erklärt. Erstmals jedoch nicht wegen der architektonischen Bedeutung, oder der einzigartigen Natur, sondern weil hier ein rund 7000 Jahre altes Wissen mündlich überliefert wird.
s gibt Orte, die unsere Phantasie beflügeln.

Es gibt Orte, die unsere Phantasie beflügeln, oft genügt schon der Name dieser Orte um Träume und Erinnerungen in uns wach werden zu lassen. Von manchen Orten besitzen wir Vorstellungen, obwohl wir sie niemals zuvor besucht haben. Für viele Menschen ist Marrakesch ein solcher Ort.
Was aber macht den Zauber dieser Stadt über Jahrhunderte und über Kulturkreise hinweg aus. Marrakesch - das ist der Rhythmus Afrikas, von schwarzen Sklaven hierher gebracht. Das sind die Geschichten und die Kultur der Berber und Araber. Das ist der Ort, der Elias Canetti und Paul Bowles faszinierte und den sie uns in vielen Novellen und Geschichten nahe gebracht haben. Seit Jahren verfügt Marrakesch wieder über ein beredte Stimme in der Welt - der spanische Autor Juan Goytisolo kämpft um diese 1000 Jahre alte marokkanische Perle und erzählt der Welt wieder ihre Geschichten.
Die Sonne verwandelt Marrakesch tagtäglich in einen Dörrofen. Die Händler, Hausfrauen und Marktleute erledigen ihre Geschäfte wenn möglich schon vor dem Ruf des Muezzins und ziehen sich in den Schatten der engen Gassen und den Schutz der Häuser zurück. Gegen Mittag erliegt alles Leben in der Stadt der Hitze. Unnachgiebig sind die Sonnenstrahlen vorgedrungen, überfluten die Plätze und haben die letzten Menschen verjagt.
Ein paar mutige Touristen, mit Kameras behängt marschieren tapfer und vor Schweiß triefend von einer Sehenswürdigkeit zur anderen. Die Menschen stöhnen und die kleinen, zähen marokkanischen Esel ertragen ihr Schicksal mit einer Gleichmut, die einem Seneca Ehre gemacht hätte. "Ich bin ärmer als ein Esel in Marrakesch!" - Diesen Satz hört man in Marokko, wenn man zum Ausdruck bringen will, dass es der biblische Hiob nun gar nicht so schlecht hatte wie allgemein angenommen wird.
Der Besucher, der Müßiggänger, den keine Geschäfte treiben und der nur für den Genuß in dieser sonnendurchflutete Stadt verweilt, verbringt die größte Hitze am besten auf der Terrasse seines Hotels, mit Tee gegen den Durst und gekühltem Chardonnay gegen schwere Gedanken. Man verbringt den Tag in Erwartung auf den herannahenden Abend, der die Hitze und trockene Wüstenluft verjagt.
Elias Canetti: Die Stimmen von Marrakesch.
Der Abend kündigt sich jedoch unfreundlich an. Mit einem heißen, sandgeschwängerten Wind. Wie mit einer Feile bearbeitet der Wüstenwind die rund geschliffenen Fassaden der Häuser und macht auch vor den Nerven der Menschen keinen Halt. Streit liegt in der Luft und wie jeden Tag um diese Zeit macht sich die angestaute Wut in lautstarken Flüchen Luft. Man braucht der arabischen Sprache nicht mächtig zu sein, um zu verstehen, warum der Ausdruck "Fluchen wie ein Kameltreiber" auch in Regionen verwendet wird, in denen es kaum Kamele und schon gar keine Treiber dieser Geschöpfe gibt.
Endlich Abend! Die Sonne geht unter und nimmt auch die Hitze aus den Gassen mit sich. Die letzten Strahlen zaubern atemberaubende Reflexe und Lichtspiele auf die Dächer der Stadt und vor allem die Kauoutia Moschee, mit ihrem 70 Meter hohem Minarett ein weithin sichtbares Wahrzeichen der Stadt, wird in majestätisches Licht gehüllt.
Marrakesch erwacht, die Stadt erholt sich von der Hitze und der Lähmung des Tages. Der Pulsschlag wird spürbar und das Herz beginnt kräftig zu schlagen. Menschen strömen aus ihren Häusern und beleben die Gassen, Lautsprecher beginnen zu scheppern, das Gemurmel vieler Stimmen vermischt sich und die Rhythmen Afrikas werden lauter und lauter.
Nun erwacht auch die Seele Marrakeschs wieder zum Leben, der schönste Platz Afrikas, der Djemaa el-Fna, füllt sich mit Menschen.
Als Station für Karawanen aus Zentralafrika, Ziel europäischer Glücksritter und orientalischer Händler war Marrakesch schon seit jeher ein Schmelztiegel der Kulturen. All diese Menschen kamen an einem Ort zusammen, an eben diesem Djemaa el-Fna. Wilde Berber begegneten hier gebildeten Reisenden und schwarze Sklaven brachten ihr einziges Hab und Gut, ihre Musik mit auf diesen Platz.
Der Platz der Geköpften, so der übersetzte Name, war seit je her ein Ort der Sensation und der Unterhaltung und köpfen war hier lange Zeit ein beliebtes Entertainment.
Man trifft sich auf dem Platz und redet; Hochzeiten werden hier geknüpft, man ißt und lacht. Für Händler und bunt gekleidete Wasserverkäufer ist der Platz Arbeitsstätte und Heimat zugleich. Unzählige Garküchen bestimmen den Geruch - gegrilltes Hammelfleisch, verbranntes Fett und die Gewürze des Orients verleihen dem Djemaa el-Fna einen unverkennbaren Duft. Man kann hier mit der Nase sehen und dabei gibt es schon für die Augen zuviel. Alles auf diesem Platz ist marokkanisch, ist authentisch, hat nichts mit Disney-Land oder Fantasia-Land zu tun. Diese Authensität treibt dann doch viele Touristen in die angrenzenden Restaurants und Cafés. Die Terrassen dieser Gastronomiebetriebe sind der beste Ort um in Ruhe erste Eindrücke von diesem imposanten Platz zu sammeln. 100x150 Meter mißt er und der Platz füllt sich von Stunde zu Stunde mehr mit Menschen an.
Der Djemaa el-Fna gehört mit Sicherheit zu den buntesten Plätzen der Welt. Junge Frauen, modisch gekleidet, tippeln auf hochhackigen Schuhen vorbei, dicht gefolgt von orientalischen Matronen mit imposanten Ausmaßen, verhüllt von einem Meer aus Stoff, nur die Augen sichtbar. Dort verhandelt ein zeternder Händler, bekleidet mit der landestypischen Djerlabba, mit einem Geschäftsmann im Businessanzug - Marke Wallstreet. Respektlos knattert ein junger Marokkaner auf einem Moped vorbei. Die Djerlabba flattert im Fahrtwind und auf dem Gepäckträger kutschiert er eine einheimische Schönheit.
Der Platz füllt sich und scheint zu bersten unter der Menge der Besucher. Akrobaten vollführen ihre Kunststücke, ein Schwertschlucker reißt den Mund auf und nimmt in grotesken Bewegungen den furchterregenden Stahl in sich auf. Tänzer schwingen zu wilder Musik, sie kommen in einen Zustand, den sich Diskothekenbesucher in Europa mit Tabletten erkaufen.
Ein helles Licht verändert die Szenerie, ein Feuerschlucker zeigt seine Künste und der Geruch von Spiritus hängt für kurze Zeit in der Luft. Ein Aufschrei, Rufe nach einem Arzt ertönen, irgendwo hatte ein Schlangenbeschwörer einen Arbeitsunfall. Ein Wunderdoktor vollbringt ein echtes Wunder, denn er macht sich unsichtbar, ein Zahnreißer erkennt die Sinnlosigkeit seiner Zange in dieser Situation.
Hochgewachsene Schwarzafrikaner vermischen sich in der Menge mit hellhäutigen Berbern und Arabern aus dem Norden Marokkos. Ein japanischer Tourist versucht tapfer all diese Szenen auf seinen Camcorder zu bannen.
Hier ist Marokko wohl am marokkanischsten. Der Platz gehört den Einheimischen und die Touristen sind nur Zierrat. Ein dicker Wasserverkäufer, schwer beladen mit seiner Ware, bahnt sich seinen Weg durch die Menge. Ein malerisch anmutender Bettler posiert für ein paar Geldstücke vor der Linse einer teuren Kamera. Und immer wummern die Trommel, spielen unentwegt den Rhythmus aus der Wiege der Menschheit. Aber es gibt auch stille Ecken auf diesem Platz, hier verrichten die Arbeiter des Papiers ihr Tagewerk, die Schreiber. Ein herausgeputzter Berber, das Gesicht wettergegerbt und unbeweglich, schildert dem schmächtigen Mann sein Problem. Normalerweise bittet der stolze Mann niemanden um Hilfe, aber ein Brief ist eine unlösbare Aufgabe für den Analphabeten.

Juan Goytisolo: Kibla. Reisen in die Welt des Islam.
Die meisten Menschen jedoch sammeln sich um die Herrscher des Platzes, die unumstrittenen Helden des Djemma el-Fna, die Geschichtenerzähler. Die Menge sammelt sich um die Erzähler umringen sie in Kreisen und kaum jemand verläßt den Zirkel vor Ende der Geschichte. Die Erzähler des Djemma el-Fna sind mehr als nur Rezitatoren. Sie sind Schauspieler, die ihr Stück ohne Drehbuch spielen, die alle Rollen der Geschichte selbst übernehmen. Ihre Gesten schlagen die Zuhörer in den Bann, die Ausdruckskraft ihres Vortrags sorgt für fast ehrfürchtige Ruhe. Die Geschichten leben nur in den Köpfen der Erzähler und der Zuhörer, kaum eine von Ihnen ist aufgeschrieben. Die Geschichten sind uralt und könnten wir die rauhen kehligen Laute verstehen, so wären wir überrascht. Es sind die alten Themen, von Liebe und Haß, Leidenschaft und Verrat. Fragmente von Romeo und Julia werden hier erzählt, wurden hier schon erzählt, als noch niemand an Shakespeare dachte. Die Geschichten sind älter als die Schrift, sie sind unser aller Erbe. Die Trommler haben den alten Rhythmus von Generation zu Generation weiter gegeben. Die Geschichtenerzähler retten einen anderen alten Schatz der Menschheit hinüber in die Neuzeit, die Märchen.
Einer der größten Bewunderer dieser Erzähler ist der schon erwähnte spanische Dichter Juan Goytisolo. In jahrelanger, zäher Arbeit ist es ihm gelungen die Unterstützung der UNESCO für diesen einzigartige Platz zu gewinnen.
Am 29. Mai 2001 wurde der Djemma el-Fna zum Weltkulturerbe erklärt. Erstmals jedoch nicht wegen seiner architektonischen Bedeutung, oder der einzigartigen Natur, sondern weil hier ein rund 7000 Jahre altes Wissen mündlich überliefert wird.
Wir wissen nun, warum Marrakesch so einmalig ist, warum gerade Schriftsteller diese Stadt so sehr lieben. Sie ist das Zentrum der Phantasie, Hauptstadt der Fabulierer. Marrakesch ist die Quelle und die Hüterin eines alten, uns allen innewohnenden Wissens.
Parabolantennen überschatten die Dächer von Marrakesch, doch die Einwohner werden noch immer von Geschichtenerzählern in den Bann gezogen. Abend für Abend beleben sie diesen Platz. Der Djemaa el-Fna - Platz der Enthaupteten, der Gaukler, Scharlatane und Erzähler ist eine jahrhundertealte Konkurrenz zu Hollywood. Das Leben auf diesem Platz inszeniert sich jeden Tag aufs neue, besser als ein Regisseur es jemals planen könnte.


Lesetipps:

Elias Canetti: Die Stimmen von Marrakesch.
Aufzeichnungen nach einer Reise.
8°. 117 S. Geb. Carl Hanser 1994.

Juan Goytisolo: Kibla. Reisen in die Welt des Islam.
8°. 237 S. Pp. Suhrkamp Verlag 2000.


Quellnachweis: http://www.marokko-tourismus.de/content/aufsaetze/aufsatz_010.shtml


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