Um die Diskussion über "Nazi-Begrifflichkeiten" etwas anzuregen, möchte ich einen Artikel einfügen, der am 09.12.2007 im Bremer Weser-Kurier erschienen ist:
Das Prinzip Missverständnis von Heinz Kurtzbach
Es scheint an der Zeit zu sein, ein Wort zu verlieren über eine Tugend, um die man sich sorgen muss: die Höflichkeit, also um die guten Sitten im Umgang miteinander. „Höflichkeit“, sagt das Lexikon, „ist eine Tugend, deren Folge eine rücksichtvolle Verhaltensweise ist, die den Respekt vor dem Gegenüber zum Ausdruck bringen soll. Ihr Gegenteil ist Grobheit.“ Respekt vor dem Gegenüber, möchte man, aktuelle Dispute im Ohr, fragen: Ja, gibt’s den noch?
Nein, er ist arg unter die Räder gekommen, der Respekt vor dem Anderen. Grobheit ist angesagt, gegen Grobheit ist die tugendhafte Höflichkeit chancenlos in der skandalgeilen Mediendemokratie. Wer die Schlagzeile will, nutzt eher das ungehobelte Wort: Ich bin grob, ich bin im Gespräch, ich bin. Und wem sich die zusätzliche Chance bietet, den Anderen des Gebrauchs nazi-kontaminierter Begriffe zu bezichtigen, ergreift sie. Womit nicht mehr das Thema das Thema wäre, sondern jener, der es thematisiert hat. Ja, es wimmelt von Grobheiten - und von groben Missverständnissen, die freilich meistens gewollt, weil sie bequem sind: Das "Prinzip Missverständnis" garantiert das Hintertürchen, durch das man sich verziehen kann von der Spielwiese der Ungehobeltheiten - mit einem billigen "Sorry. War nicht so gemeint. Und wenn ich aus Versehen jemanden beleidigt haben sollte …" So lügt man sich heraus. Dass die Diskussionskultur dabei auf der Strecke bleibt, interessiert nicht sonderlich.
Nehmen wir einmal, nur so als Beispiel, die Dame Roth; nahe am Wasser gebaut zwar, aber phantastisch grob. Roth, Claudia. Immerhin ist sie Vorsitzende einer im demokratischen Spektrum fest verankerten Partei, die Respekt für sich reklamiert. Kann sie das aber, wenn sie selbst ihrem Gegenüber den Respekt verweigert? Nun mag die Frau Vorsitzende vermutlich Bischöfe nur leiden, wenn sie lila Halstücher tragen. Ist es aber den Geboten der in Mitteleuropa geltenden Höflichkeitsnormen entsprechend, einen deutschen Bischof, und sei der Herr Mixa noch so konservativ (übrigens: ein katholischer Bischof darf das: konservativ sein) einen "durchgeknallten, spalterischen Oberfundi" zu schimpfen, damit die rothschen Claqueure in der Trampelloge einen Heidenspaß haben? Ebenso: Ist es angemessen, wenn in des Bischofs Umgebung daraufhin die Nazi-Keule aus dem Sack geholt wird und es in Richtung Claudia Roth "faschistoid" zurückschallt?
Später Triumph brauner Kleingeister
Nehmen wir noch einen Gottesdiener: Kardinal Meisner ist ein Mann des offenen Wortes - eine gefährliche Haltung in einer Gesellschaft, die ihre Sprache freiwillig der Zensur der Political Correctness ausgeliefert hat. Frank und frei erklärte er, was er von eheähnlichen Gemeinschaften, von jenen gleichgeschlechtlicher Art allemal, hält. Wenig nämlich. Dies ist, zugegeben, nicht die Sicht des Zeitgeistes, aber die hat der Kardinal auch nicht zuvörderst zu vertreten. Was bekommt er darob zu hören von einem bekannten deutschen Oppositionspolitiker? "Hassprediger!". Als hätte der Kardinal zum Heiligen Krieg, zum Dschihad gegen Andersgläubige gehetzt. Ist das angemessen? Geht man so zivilisiert miteinander um? Da gibt es zur Flucht nicht einmal mehr die Hintertür des Missverständnisses.
Oder, noch einmal Kardinal Meisner: Er lässt in seiner Diözese ein Museum bauen. Er liefert bei der Eröffnung eine Liebeserklärung an Kunst und Künstler ab. Und dabei verwendet er ein Wort, das sozusagen auf dem ungeschriebenen Index steht: "entartet". Ein Begriff, den die Nazis 1938 vergewaltigt haben, als sie großartige, oft jüdische, Künstler mit der Ausstellung "entartete Kunst" zu diffamieren versuchten. Das ist den erbärmlichen braunen Kleingeistern nicht gelungen, offensichtlich aber haben sie bestimmte Begriffe der deutschen Sprache beschlagnahmt für alle Zeiten. "Entartet" gehört dazu. Welch später Triumph für Goebbels.
Die zwar von niemandem legitimierte, aber allgegenwärtige deutsche Sprachpolizei empörte sich und viele, die des Kardinals Rede weder gehört noch gelesen hatten, empörten sich beflissen mit, denn so etwas ist opportun: Der Kardinal habe von entarteter Kunst gesprochen; er habe sich zu entschuldigen, er habe, er habe, er habe. Dabei hat er gar nicht - von entarteter Kunst gesprochen, dabei hat er, was seines Amtes ist, gesagt: "Vergessen wir nicht, dass es einen unaufgebbaren Zusammenhang zwischen Kultur und Kult gibt. Dort, wo die Kultur vom Kultus, von der Gottesverehrung abgekoppelt wird, erstarrt der Kult im Ritualismus und die Kultur entartet. Sie verliert ihre Mitte." Das mag für manche zu verstehen etwas schwierig sein. Aber nur das hat er gesagt; von "entarteter Kunst" war nie die Rede. Aber wen interessiert schon die Wahrheit? "Bischöfe trampeln durch den Prozellanladen", titelte eine durchaus seriöse deutsche Tageszeitung, ganz hingegeben dem grob-unhöflichen Zeitgeist. Berufsempörer aller deutschen Länder, empört Euch! Tue Buße, Kardinal! Wieso eigentlich?
So läuft das ab; als unterhaltsam gilt solch Händel auf Nebenkriegsschauplätzen jedenfalls allemal: ein geiler Zoff! Mit öffentlich inszenierter Empörung lassen sich Bischöfe trefflich drangsalieren und Ex-Tagesschausprecherinnen mit Berufsverbot belegen. Dabei ist, mit Verlaub, aus Eva Hermans überflüssigen Büchern keineswegs herauszulesen, dass sie den Nazis zugeneigt wäre; wohl aber, dass sie an den Segnungen des Feminismus für die Rolle der Frau in der Gesellschaft zweifelt. Das, nichts anderes, war ihr grundlegender Frevel, und damit war ihr öffentlich-rechtliches Aus besiegelt. Und mit einem etwas anders gearteten öffentlichen Umgang miteinander könnte möglicherweise auch noch ein Politiker leben, dessen Fallschirm sich nicht rechtzeitig geöffnet hatte. Aber die scharfzüngigen Scharfrichter waschen ihre Hände in Unschuld.
Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten, und den Narren scheint jede Narretei erlaubt; also kreierten Harald Schmidt - immerhin ist der Mann "Kult" - und sein jugendlicher Beifahrer Oliver Pocher nach dem fein inszenierten Herman-Desaster bei Johannes B. K. umgehend das "Nazometer", das eine Warnsirene piepen lässt, wenn nazibelastete Sprüche fallen: "Die SPD im 25-Prozen-Getto"; "Ich bin auf der Autobahn geblitzt worden"; "Zu Hause habe ich einen schönen Gasherd". Geschmacklos. Aber eine provozierte Geschmacklosigkeit. So was kommt von so was. So geht man hierzulande miteinander um. Ein Schamometer wäre angebrachter als ein Nazometer.
Stören inzwischen Inhalte?
Das Niveau der Streitkultur in Deutschland ist trostlos; es wird bestenfalls von den Gesetzmäßigkeiten der Talk-Shows bestimmt, (man red’ ja nur, man sagt ja nichts) oder gleitet auf schmidtschem Niveau oder auf dem pocherschen oder dem bohlenschen dahin. Das alles ist Inhalten, die der Diskussion bedürfen, nicht dienlich. Aber Inhalte gelten eher als störend; nix Genaues weiß niemand - wichtig ist allein die Möglichkeit des Haudraufs. Via Fernsehen aus der Ferne ganz nah dabei zu sein, wenn sich Autoritäten in einer Schlammschlacht geifernd ihrer Autorität entkleiden, bereitet der Allgemeinheit einen ungemütlichen Spaß. Da kommt niemand auf den Gedanken, dass es im Grunde nur beschämend ist, wenn sich ausgewiesene Mitglieder der Eliten benehmen wie Dieter Bohlen bei der Suche nach Superstars oder Herr und Frau Plumps in einer nachmittäglichen Trash-Show im TV.
Nun ist, könnte man einwenden, schlechtes Benehmen Privatsache. Ist es auch, im privaten Raum; der freilich ist in einer Gesellschaft, die das Private gerne öffentlich zelebriert, eng bemessen. Die Grobheiten, mit denen sich unsere Eliten zu überziehen pflegen, sind also öffentliche Angelegenheiten und dort, wo es negativ beispielgebend wirken muss auf eine mehr oder minder orientierungslose Gesellschaft, die den Freiherrn von Knigge längst ausgebürgert hat, gefährdet es die Funktionsfähigkeit des demokratisch organisierten Gemeinwesens - weil diese Staatsform der zielorientierten, argumentativ unterfütterten Sachdebatte bedarf, um entscheidungsfähig zu bleiben.
Das kann aber nicht funktionieren, wenn die Diskussionskultur im Orkus versenkt wird; wenn man sein Gegenüber nicht überzeugen, schon gar nicht dessen Argumentation hören, wenn man ihn lediglich verbal vernichten will, wenn Lautstärke an Stelle der Lauterkeit tritt. Also meistens. Insofern haften dem, was dem Publikum da vorgeführt wird, oft durchaus faschistoide Züge an, und das gilt insbesondere für Themenkomplexe, die von der Political Correctness tabuisiert worden sind. Spätestens bei diesen überziehen selbsternannte Sprachwächter jene, die ihre Meinung äußern, mit Schmähungen und persönlichen Verunglimpfungen, und wenn auch nur irgendein Ansatzpunkt - ein falsches Wort genügt - greifbar ist, mit dem man den Kontrahenten mit Nazi-Verdacht überziehen kann, wird diese Chance gierig ergriffen; ein Trauerspiel.
Ideologiebedingte Sprachsäuberung
Die Reflexe funktionieren besser als die Vernunft, und die von den Nazis missbrauchte Sprache erfährt neues Unrecht ein ums andere Mal. Dabei gibt es Plädoyers zu ihrer Rehabilitierung zur Genüge, zum Beispiel die des Schriftstellers Viktor Klemperer, der sich in seiner Abhandlung "LTI - Sprache des Dritten Reiches" mit der Thematik auseinandergesetzt hat.
Klemperer kommt zu der Überzeugung, dass es nicht einzelne Wörter waren, die den großen Propagandaerfolg der Nazis hinterließen, sondern vielmehr die stereotypen Wiederholungen des Wortschwalls; das, gepaart mit Anti-Intellektualismus, nichts anderes, habe zur Beeinflussung und Suggestion der Massen durch die Nazis geführt. Das und nicht die Vergewaltigung des einzelnen Wortes. Soweit Klemperer. Aber wer liest ihn?
Brandenburgs Innenminister Schönbohm, ein in der Wolle gefärbter Konservativer zwar, aber weder ein Rechts- oder sonst irgendwie Extremer, äußerte unlängst in Bezug auf das Beispiel der Eva Herman die Befürchtung, dass sich "hinter der Ideologie bedingten Säuberung der Sprache nichts anderes als Intoleranz verbirgt. Deren Folge ist, dass Denkfeigheit an die Stelle freiheitlichen Bürgertums tritt." Das war deutlich.
Zu deutlich für die eifrigen Sprachpolizisten: Die Forderung nach Schönbohms Rücktritt als Innenminister ließ nur einen halben Tag lang auf sich warten. Solch eine Meinung hat man einfach nicht zu haben; und wenn man sie schon hat, nicht zu äußern. Punktum.
Womit Schönbohms Diktum am eigenen Beispiel schnell bestätigt wurde: Natürlich sind die Gedanken frei im Lande; zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie aber besser die Vollstrecker der politischen Korrektheit. In solch einem Klima gerät das demokratische Gemeinwesen an den Abgrund, weil eine seiner wichtigsten Säulen, die Meinungsfreiheit, ins Wanken gerät.
Gift für die Demokratie
Wie weit die Verbeugung vor der politischen Korrektheit geht, hat unlängst auch jemand zu spüren bekommen, der bislang nun wirklich nicht im Verdacht stand, auf der falschen Seite zu sein: Ralf Giordano, Journalist und Schriftsteller jüdischer Herkunft, Humanist, Moralist und Aufklärer. Als er sich vehement gegen den Bau einer Großmoschee in Köln wandte und dabei kritisch mit dem Islam auseinandersetzte, hagelte es bösartige Kritik.
Giordano ist stark genug, das auszuhalten, aber es hat ihn auch sehr nachdenklich gestimmt, und in einem Interview sorgte er sich um die Freiheit der Meinung in Deutschland: "Dieses "Aber mit solcher Kritik (an der Moschee) begibst Du Dich in die Nähe der Nazis von heute" ist ein Totschlagargument…
Da sind wir bei dem eigentlich Unheimlichen der Situation: Dass nämlich viele Menschen, die meinen Hintergrund nicht haben, die gleiche Kritik am Bau der Moschee und an den islamischen Parallelgesellschaften in Deutschland überhaupt, äußern möchten, das jedoch nicht wagen, eben weil sie fürchten, dann erstens in die rechtsextreme, rassistische, neonazistische Ecke gestellt zu werden und zweiten plötzlich die falschen Bundesgenossen an ihrer Seite zu haben."
Das ist der Punkt: Aus bester Absicht ist man in Deutschland schon wieder so weit gekommen, dass man es sich mehrfach überlegt, ob man seine Meinung frei äußert und sich den Grobheiten der Guten ausliefert und unter Verdacht stellen lässt, unter welchen auch immer. Die Furcht vor den Intoleranten, die Giordano da ausmacht, ist schleichendes Gift für die Demokratie, die des eigenständig denkenden Individuums bedarf.
Wenn man nicht bald die Geduld wiederfindet, die Gedanken des Gegenübers auszuhalten, wird die Gesellschaft erst die Fähigkeit zum Kompromiss verlieren und dann ihre geistige Freiheit. Da bietet dann auch das "Prinzip Missverständnis" keinen Ausweg mehr.