Hallo, zu dem Thema paßt dieser Artikel aus dem Spiegel vom 24.4.2006 ganz gut. Es steht auch etwas über die Kinder der Auswanderer darin.

Viele Grüße, Ulla


AUSWANDERER
„So weit wie möglich nach Westen“
Nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl flohen Tausende deutsche Familien
vor der Strahlung nach Südeuropa. Viele kehrten ihrer Heimat für immer den Rücken. Doch das
naturnahe Leben unter Palmen erwies sich nicht als Idyll, sondern als harte Prüfung.

SABINE SAUER / DER SPIEGEL (R.)

Die aufgehende Sonne steigt über die Berge von La Palma und taucht das Land davor in sanftes Licht.
Xxxx Xxxxxx faltet die Hände. „Sonnen-gruß“ heißt die Yoga-Übung, die sie mög-lichst jeden Morgen praktiziert, draußen auf ihrem weiten, wildbewachsenen Grund-stück nahe dem Dorf El Paso. Dann zapft sie frisches Wasser, das von den Höhen erloschener Vulkane über lange Leitun-gen
in ihr Haus gelangt. Auf dem Grund ihres Glaskrugs funkeln Kristalle, Rosen-quarz
und Amethyst. „Die geben dem Wasser die Energie zurück“, sagt Xxxx Xxxxxx.

Fast ihr halbes Leben hat die 43-Jährige zwischen in der Abgeschiedenheit der nordwestlichsten Kanareninsel verbracht. Ihr Mädchengesicht, eingerahmt von lan-gen blonden Haaren, ist von der Sonne ge-gerbt. Die zierliche Frau hat auf La Palma mit eigenen Händen ein Haus gebaut und
ihre fünf Söhne zu musizierenden Men-schen
erzogen, „weil das dem Weltfrieden dient“. Die drei jüngsten leben noch bei ihr, dazu ein Esel, ein Hund und Katzen. Ihr Geld verdient Xxxx Xxxxxx heute mit Yoga-Kursen und Ayurveda-Massagen für gestresste Touristen.

Sie sagt, sie habe auf La Palma ihr Pa-radies
gefunden. Sie hätte es wohl niemals gesucht, wenn
am 26. April 1986 nicht ein marodes ukrai-nisches
Kernkraftwerk explodiert wäre. Der Super-GAU von Tschernobyl er-reichte Deutschland in Schüben. Erst mit dreitägiger Verspätung, am 29. April, lief die Eilmeldung über die Ticker, dass sich
in der Sowjetunion „offenbar ein ernster Atomunfall ereignet hat“.

Die Bundesregierung verneinte jegli-che Gefahr. Radioaktiver Fallout, verkün-dete Forschungsminister Heinz Riesen-huber,
sei für Deutschland nicht zu erwar-ten.
Doch schon wenige Stunden später zogen Regenwolken auf, und keiner hatte einen Plan, keiner wusste, wie viel Radio-aktivität
überhaupt wo herunterkam. Die Behörden hielten die ersten Messwerte zurück. Sie sickerten trotzdem durch, und mit ihnen kam die bange Frage: Wie viel Strahlung macht Krebs?
Vor Frischmilch von weidenden Kühen wurde gewarnt, am 2. Mai legte die Bun-desregierung
als Grenzwert 500 Becquerel pro Liter fest. Die Katastrophe bescherte den Deutschen immer neue Schlagzeilen:

„Mütter, duscht eure Kinder“, „Fenster zu“,
„Spielplätze verseucht“, „Sturm auf Jod-tabletten“, „Müssen wir morgen hungern?“
Freibäder schlossen, die Wasserversorgung aus der Donau wurde ausgesetzt. In den Wartezimmern der Hausärzte bibberten eingebildete Strahlenkranke.

Der SPIEGEL titelte „Angst Angst Angst Angst“.
Bereits am ersten Mai-Wochenende waren viele Auslandsflüge ausgebucht. Ein Exodus von Sandalenträgern und Atom-kraft- nein-danke-Bewegten begann. Über-all in Deutschland stiegen Eltern mit klei-nen Kindern in Autos, Busse, Züge oder Flugzeuge und flohen gen Süden, nach
Portugal, Spanien. Allein im winzigen Fi-scherdorf
Salema an der Algarve zählte Joachim Voigtmann, der sich und seine Kinder dort sechs Monate lang in Deckung brachte, 30 weitere Familien aus Deutsch-land.

„Als Beamter hatte ich das Privileg, ein halbes Jahr lang Erziehungsurlaub einrei-chen zu können“, sagt der Fluglotse aus Gammertingen bei Ulm. Die Tochter war damals ein Baby, der Sohn gerade zwei Jah-re alt. „Ich wollte nicht, dass sie beim Krab-beln Cäsium 137 inkorporieren. Wir hatten zunächst die oberste Erdschicht im Garten
abgetragen, aber als der Boden immer noch strahlte, packten wir den Wohnwagen und fuhren so weit wie möglich nach Westen.“ Wie viele der Flüchtlinge kehrten auch die Voigtmanns nach einem Sommer in der Fremde wieder . „Deutschland er-schien uns wieder sicher.“

Andere aber kamen nie in die kontami-nierte
Heimat zurück. „Die Halbwertszeit ist noch nicht um“, sagt etwa Annette Spork aus dem Bergischen Land, die am Dão-Fluss in Portugal einen Öko-Hof mit Gästezim-mern bewirtschaftet. Auch für Xxxx Xxxxxx auf La Palma kommt eine Rückkehr nicht
in Frage. „Ich könnte heute nicht mehr in
Deutschland leben. Meine Mentalität hat sich geändert.“ Das fängt schon damit an, dass sie auf der Insel nur „Xxxx“ heißt. Die Tschernobyl-Emigranten sind mit allen per du, egal ob in Spanien oder in Portugal. Die Konventionen, das distanzierte „Sie“ haben sie im kühlen Norden gelassen.

Xxxx war eigentlich glücklich in Deutschland, ans Auswandern dachte sie nie. Mit ihrem Lebensgefährten und den Söhnen Xxxxxxx, 3, und Joshua, 1, lebte sie 1986 bei Darmstadt, studierte Sozial-pädagogik und gehörte zur alternativen Szene – Friedensbewegung, Bionahrung,
Demos gegen den Bau der Startbahn West. In dieses Leben brach Tschernobyl. Als die Studentin im Radio von dem Reaktorunfall hörte, packte sie gerade Holzspielzeug aus. Nach den Nachrichten
packte sie es gleich wieder ein. „Ich muss-te
einfach weg“, sagt sie. „Selbst Alterna-tive
hielten mich für hysterisch, aber ich wollte nicht die Kinder opfern.“ Schon am ersten Mai-Wochenende ließ Xxxx ihre Söhne nicht mehr nach draußen. Kurz dar-auf saß sie mit ihnen im Flieger Richtung Kanaren. „Das war ein Massenansturm“, sagt eine Deutsche, die seit 1982 auf der Insel lebt. „Plötzlich war alles voller Kinderwagen.“ Für die, die bleiben wollten, begann ein Leben, das wenig mit dem Mythos vom
Aussteiger in der Hängematte zu tun hat-te.
Die meisten der Tschernobyl-Flüchtlin-ge
waren jung, sprachen kein Spanisch und
hatten kaum Geld. Wer es auf der Insel
schaffen wollte, musste ranklotzen.

Xxxx hat in den vergangenen 20 Jahren
breite Arbeiterhände und kräftige Unter-arme
bekommen. „Ich hab hier alle Jobs gemacht.“ Sie ging putzen, backte Brot für einen Bioladen, betreute zwei Pflegekinder und bekam selbst noch drei Jungs mit einem neuen Mann, nachdem ihr erster Lebens-gefährte nach Deutschland zurückgekehrt war. Nebenbei baute sie das Haus aus, das anfangs nicht größer als eine Garage war,
und lernte dabei Spaniens lähmende Büro-kratie
und die freundlich-gleichgültige Men-talität
der Palmeros kennen. Wenn auf der Insel mal wieder der Zement ausging und Xxxx wissen wollte, wann denn Nach-schub komme, sagten die Verkäufer immer das Gleiche. „Mañana.“ Morgen. Am nächsten Tag sagten sie das wieder.

Die Lebensbedingungen auf La Palma waren für viele der Neuankömmlinge ge-wöhnungsbedürftig.
Der Schreiner Chris-toph Ketterle, mit Ehefrau Birgit und Baby Lena vor dem Fallout auf die Insel geflo-hen, hauste mit der Familie mehr als ein Jahr lang im Campingbus. Als Ausweich-quartier
diente eine niedrige Höhle.
„Es war wirklich ein harter Anfang“, sagt Birgit Ketterle, eine drahtige Frau mit Kurzhaarschitt.

Heute wohnen Ketterles mit Sohn Mo-ritz, 15, in einem geräumigen Haus im Nor-den der Insel, hoch oben in den Bergen von Puntagorda. Der Ort erinnert Brigit und Christoph an ihre alte Heimat im All-gäu, mit blühenden Wiesen und rumpeli-gen
Wegen, die so steil sind, dass Autos sie nur im ersten Gang packen. Im Halbschatten auf der Steinterrasse dösen der zugelaufene Hund und die drei-beinige Katze, die bei den Ketterles bleiben
durften, weil Birgit „ein Herz für Sozial-fälle“
hat. Vor dem Haus parken zwei Au-tos und ein Motorrad, auf einer Koppel in der Nähe grasen die Pferde der Familie.

Christoph fliegt jedes Jahr zwei Wochen nach Frankreich, zum Skifahren. Den Campingbus, in dem ihr Sohn einst gezeugt wurde, gibt es heute noch. Der hellblaue Lack ist an vielen Stellen vom
Rost zerfressen. Fahren kann der Bus schon lange nicht mehr, er dient jetzt ei-nem Nachbarn als Lager für Schrottteile.

„Nach 12, 13 Jahren hatten wir’ s finan-ziell
geschafft“, sagt Christoph, ein boden-ständiger
Typ, der im Gegensatz zu ande-ren Aussteigern den richtigen Beruf hat – für Handwerker gibt es immer Arbeit. Mit zwei Kompagnons gründete er bald nach der Ankunft eine eigene Schreinerei. Die
Aufträge häuften sich, weil die anderen Deutschen auf der Insel seine Arbeit schätzten. 50-Stunden-Wochen waren die Regel, aber so kam das Geld rein. Seine Frau versorgte die beiden Kinder und zog eine kleine Mandelmusproduktion auf. Das
Familieneinkommen reichte schließlich für
das Eigenheim mit Solarstromanlage, ein Ferienhaus zum Vermieten und das USA-Jahr
von Tochter Lena, die jetzt in Madrid Psychologie studiert.

Die Ketterles leben ein deutsches Mittelstandsleben, nur dass in ihrem im Fe-bruar
die Mandelbäume blühen, während Deutschland im Schnee versinkt. Vor allem das Klima hält sie inzwischen davon ab, jemals nach Bayern zurückzu-kehren. Und die radioaktive Strahlung? „Aus heutiger Sicht war der Fallout wohl nicht so schlimm“, sagt Christoph, „aber man weiß natürlich nie, welche Krankhei-ten und Todesfälle tatsächlich auf Tscher-nobyl zurückzuführen sind.“
Wenn man Birgit fragt, ob sie heute noch mal nach La Palma gehen würde, zö-gert sie mit ihrer Antwort. „Die Einheimi-schen haben uns total herzlich aufgenom-men, aber mir fehlt hier sehr das Umwelt-bewusstsein“ , sagt die 42-Jährige, die vor dem GAU einen Bioladen in Obergünz-burg
betrieb. Auf der Insel wusste sie wie viele der deutschen Öko-Einwanderer erst mal nicht, welche Nahrungsmittel sie ein-kaufen sollte. „Bis heute spritzen die Pal-meros wie die Wahnsinnigen“, kritisiert sie.

Einwanderin Brigitte Ueberschär, deren bei Köln gelegene Biogärtnerei 1986 ver-strahlt wurde, gründete in El Paso einen Na-turkostladen – auch für den Eigenbedarf. „Die Supermärkte auf La Palma waren der absolute Horror“, sagt die 46-Jährige. Die Lebensmittel strotzten vor Zucker und Kon-servierungsmitteln, und über den Fleisch-theken pumpten Zerstäuber alle paar Minu-ten
Insektengift in die Luft. „Für uns“, so die dreifache Mutter, „gab’ s hier nix zu essen.“

Sogar Ausläufer der Atomkatastrophe, vor der man doch geflohen war, erreichten die deutschen Exilanten im palmerischen Krämerladen: In den Regalen tauchte plötz-lich Milchpulver aus Deutschland auf, das dort wegen seiner Strahlenbelastung nicht mehr verkauft werden durfte.

„Hier wird viel Müll abgeladen“, sagt Brigitte, „man merkt, dass wir am letzten
Zipfel Europas sind.“ Etwas kürzer war der Weg für jene, die vor dem radioaktiven Regen nach Portugal flohen: Es genügte, sich am Straßenrand
hinzustellen und den Daumen rauszuhal-ten.
Oder etwa einen Bully vollzupacken und loszufahren.

„Legal – illegal – ******egal – Portugal“ hieß ein Aussteiger-Motto der Achtziger. Am fernen Atlantik, so die Legende, ließe es sich mit ein paar Hanfpflanzen und etwas Sozialknete aus Deutschland prima leben. „Das war mal“, sagt Henrietta Bila-wer, Redakteurin des in Portugal er-scheinenden deutschen Magazins „Esa“.
„Seit Portugal 1986 der EU beitrat, ist auch hier das Leben teuer.“ Die Aus-wanderer bilden heute eine Zweiklassen-gesellschaft: arme Lebenskünstler und reiche Rentner.

Arnold Miederhoff gehört zu den Ar-men. Der Sauerländer lebt von 180 Euro im Monat, einer Art Rente aus dem Fami-lienvermögen. Dennoch ist der 65-Jährige über jeden neuen Tag hier draußen froh.
Arnold hat Hautkrebs, seit acht Jahren. Aber nicht von der Radioaktivität, vor der er einst floh. Sondern von der portugiesi-schen Sonne.
„Die Geschwüre verätze ich mit einer Salbe gegen Hühneraugen“, sagt der dürre Mann mit dem Häkelstirnband. Seine raue, rote Gesichtshaut sieht ungesund aus. Die hiesige Krankenversicherung kostet zwar nur etwa 50 Euro. Sie leistet aber auch nur die Basisversorgung. Mehr Rechnungen er-halten Arnold, seine Frau, seine Schwester und deren Mann nicht: Sie zahlen keine Miete, schöpfen Wasser aus dem Brunnen
und haben weder Telefon noch Strom.

Monte do Aç ude ist eine grüne, abge-schiedene
Oase mitten in der hügeligen Alentejo-Landschaft. Jetzt, im Frühling, sprießt blaue Iris auf den Wiesen zwischen den Korkeichen. Es riecht nach Thymian und Oregano. Auf dem Dach des kleinen
schmutzig-weißen Hauses oben auf dem Berg weht die Bayernfahne. „Wir haben viel Platz, reines Quellwas-ser und Zeit für unsere Kinder“, sagt Ar-nold. „Das ist doch Reichtum. Mein Vater war in Kriegsgefangenschaft und hat sich danach abgerackert für seine Firma. Von uns Kindern hatte er nichts.“

Als der Reaktor in die Luft flog, bestell-ten
die vier einen Bio-Acker im Bayeri-schen Wald. Die Gegend traf es besonders schlimm. Den Bauern wurde empfohlen, spatentief Erde abzutragen, „die gesamte fruchtbare Schicht“. Arnolds Frau Elfi
stemmt die Hände in die Hüften. „Unser ganzes Leben beruhte doch auf frischem Gemüse. Und nun stattdessen Konserven? Na geh!“

Nach einer Odyssee quer durch Europa im dunkelroten Mercedesbus landeten die Lang-haarigen mit zwei Zelten, zwei Kleinkindern
und einem Baby im Alentejo. Die ersten zwei Wochen waren nur Strand und Party. Danach kam der Kater. Der eine ver-misste Konzerte. Die andere hatte die Nase voll vom Windelwaschen im Fluss und vom Ausstopfen nasser Gummistiefel. Die Zel-te
bekamen Löcher. Die Kinder wurden krank. Die neuen Nachbarn schenkten Lutscher, aber ihre Sprache mit den vielen Zischlauten entpuppte sich als unüber-windbare Barriere.

Arnold, der Intellektuelle, der Bücher on Heinrich Böll mitgebracht hatte und in Portugal José Saramago entdeckte, lernte am schnellsten. Zweimal bat er den Besit-zer des Monte do Aç ude, ihnen die Ruinen im Niemandsland zu überlassen, eine hal-be Stunde Fußmarsch vom nächsten Dorf
entfernt. Zweimal winkte der ab. Im Herbst, als der Regen nicht aufhören woll-te, schnitt Arnold die geliebten Zotteln ab, rasierte sich und sprach ein drittes Mal vor.

Das Opfer zahlte sich aus. „Wir Portu-giesen
wirken tolerant“, sagt ein Nachbar aus dem Dorf, „aber wir sind es nicht wirk-lich.“ Männer mit langen Haaren, Frauen ohne BH? Virgem Maria, Mutter Gottes, bewahre uns!

Nachts sitzt die aus Bayern entflohene Kommune bei Kerzenschein am Kamin, raucht und trinkt. Durch die Ritzen kriecht feuchte Kälte. Elfi kichert oft nervös. Sie glauben an Liebe und Offenheit, aber es gibt Abgründe in diesem isolierten Dasein, die schwer erträglich sind. „Ich habe dieses Leben keinen Tag als Urlaub empfunden“, sagt die dreifache Mutter.
Wenn das Geld gar ni cht reicht, fährt Elfi im Winter nach Regensburg und ver-kauft die Obdachlosenzeitung „Donau-strudel“. Zurück kommt sie mit bunter Biowolle, die sie im ehemaligen Schafstall zu Schals und Kinderschuhen filzt. Arnolds Schwester Hilli sammelt knorrige Holz-
stücke für Ketten, die sie an einen Laden in
Deutschland schickt. Die Freaks, die sich nachts auf getrock-neten Farn betten, sind gedanklich ständig in der alten Heimat. Sie wissen mehr über
Merkels Pläne als über die der örtlichen
Partido Comunista, sie hören täglich Deut-sche
Welle und tauschen SPIEGEL-Hefte mit anderen deutschen Emigranten aus.

Die Welt ihrer Kinder indes liegt vor der Haustür. Eine selbst aus portugiesischer
Warte rückständige Welt: Der struktur-schwache
Alentejo leidet unter Landflucht. 1987 gebar Elfi Luis, ihr Mann versuch-te sich als Hebamme. „Männer können das nicht“, weiß seine Frau seitdem. Luís, der Schäfer aus der Nachbarschaft, wurde der Pate von Luis, dem Deutschen, der Portu-giesisch besser beherrscht als die Sprache seiner Eltern. Als der Junge sechs wurde, wollten sie die Dorfschule gerade schlie-ßen. Doch zu den zwei portugiesischen
Kindern gesellten sich zwölf ausländische. Die Schule blieb.

Die anschließende Oberschule entpupp-te sich als tumbe Paukanstalt. Sie wurde Luis zum Verhängnis. Seine größeren Schwestern bissen sich durch; eine ist heu-te Hotelfachfrau in Portimão. Luis brach
vor zwei Jahren mit 16 ab. „Die riefen uns da nicht mit Namen auf, sondern mit Num-mern“,
erzählt er, „ich war die 13.“

Luis graust es vor Deutschland, „zu viele Regeln“. Aber ohne Schulabschluss, das hat
er eingesehen, geht es auch in Portugal nicht.
Zahlen Kinder wie Luis, den die Eltern einst vor tödlichen Strahlen bewahren wollten, jetzt den Preis für die Flucht ohne Wiederkehr? Für die in die Jahre gekom-menen Hippies gibt es schon lange kein Zurück in die deutsche Welt mit Bauspar-verträgen und Altersvorsorge und Wan-dertagen
für den Nachwuchs.

Luis ist nicht der einzige Schulabbrecher. Marlon, 22, Sohn der Tschernobyl-Emigrantin Karin Giesewetter, lebt 120 Kilometer weiter südlich an der Algarve und „hängt durch“, wie er sagt. Seine Mutter ist erfolg-reich; sie wurde 2003 mit dem Uta-Zabel-Preis für das beste Bioprodukt Portugals aus-gezeichnet, selbstgezüchtete Aloe Vera. Sie ist Diplom-Agraringenieurin, „der Titel hilft schon“. Ihre großen Augen leuchten. Sie war glücklich, als Marlon damals als Kleinkind über die Wiesen stromerte, während sie gemeinsam mit einer portu-giesischen Witwe die Krume beackerte.
Heute bewirtschaftet Giesewetter ein großes Stück Land, das ihr Vater gekauft hat. Aber Marlon macht der fleißigen Mut-ter Sorgen, seitdem er vor zwei Jahren die Schule schmiss. „Hier zählt nicht Leis-tung“, nölt er, „sondern Pünktlichkeit.“

Ist er stolz darauf, dass die Mutter mit
ihm vor dem Fallout ausriss? Der junge Mann, der naturwissenschaftliche Bücher verschlingt, starrt ins Leere. „Die ******e ist doch überall. Selbst bei Bio ist am Ende genmanipuliertes Zeug drin.“
Xxxxxxx Xxxxxx, jener damals dreijährige Junge, den seine Mutter Xxxx 1986 vor dem Fallout retten wollte, ging vor fünf Jahren zurück nach Deutschland. Das Abitur hatte er noch auf La Palma gemacht, aber dann wurde ihm die Insel zu eng. Den Sprung an die Fachhochschule
Darmstadt, wo er Elektrotechnik studiert,
schaffte Xxxxxxx problemlos. „Ich bin mei-ner
Mutter dankbar für die schöne Kind-heit. Aber in manchen Dingen“, sagt er und schmunzelt ein bisschen, „sind wir einfach unterschiedlicher Meinung.“ Momentan schreibt Xxxxxxx seine Di-plomarbeit für ein Unternehmen namens
Framatome. Die Firma ist spezialisiert auf
Kernenergie und baut zusammen mit Sie-mens
in Finnland ein Atomkraftwerk. Soll-te Framatome ihm nach dem Studium ei-nen Job anbieten, würde Xxxxxxx nicht nein sagen.

Last edited by Youssef Alami; 12/11/11 03:18 AM. Reason: Name entfernt

Viele Grüße, Ulla

"Ein Kind ist kein Gefäß, das gefüllt, sondern ein Feuer, das entzündet werden will" Francois Rabelais