Ulla, vielleicht interessiert dich in Zusamenhang mit deiner Frage dieser Artikel (die wichtigen Stellen werde ich mit Fettschrift hervorheben):

Demütigungen der Iraker durch amerikanische GI´s

Schlimmer als der Tod

Der amerikanische Islamwissenschaftler Bernard Haykel äußert sich zu einem brisanten, bislang aber eher beiläufig beachteten Aspekt der US-Folterskandale: Der Forscher erörtert, was die Bilder aus dem Abu-Ghraib-Gefängnis in der arabischen Welt ausgelöst haben.


Amerika versteht die wahre Bedeutung nicht, die die Bilder mit den Folterszenen aus Abu Ghraib für die muslimische Welt haben. Der dies erklärt, ist Bernard Haykel, der an der New York University Islamwissenschaft lehrt. Was das Unverständnis dafür anbelangt, mit welcher Wucht die Bilder auf die arabischen Betrachter treffen, stehen wir Europäer den Amerikanern vermutlich in nichts nach. In dem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung versucht Haykel, die „wahre Bedeutung“ der zu Tage getretenen Folter und Demütigungen zu beschreiben.

SZ: Donald Rumsfeld hat deutlich gemacht, dass im Falle Abu Ghraib nicht wegen Folter, sondern wegen Misshandlung ermittelt wird. Lässt sich diese Unterscheidung aufrechterhalten?

Bernard Haykel: Auch abgesehen von den offensichtlichen Gewalt- oder gar Tötungsakten in Abu Ghraib handelt es sich in allen Fällen um Folter, selbst wenn es Folter psychologischer Art war. Die Leute, die das taten, wussten ganz genau, was für ein enormes Tabu öffentliche Nacktheit in der arabischen Kultur darstellt. Auch zwischen Männern. Dass Frauen dabei waren, hat die Folter nur noch verschärft.


» Dieses Tabu wurzelt im islamischen Recht, das Nacktheit und Scham eindeutig definiert. «


SZ: Wie streng ist dieses Tabu? Sind Badehäuser keine öffentlichen Orte?

Haykel: Das schon, aber in der gesamten arabischen Welt werden Sie keinen Mann finden, der sich anderen Männern nackt zeigt. Sie tragen auch in Badehäusern immer ein Handtuch, das ihren Körper zwischen Nabel und Knien bedeckt.

SZ: Ist das ein kulturelles Tabu oder legt der Koran das Verbot fest?

Haykel: Dieses Tabu wurzelt im islamischen Recht, das Nacktheit und Scham eindeutig definiert. Bei Männern liegt der tabuisierte Bereich zwischen Nabel und Knie, bei Frauen ist es der gesamte Körper mit Ausnahme des Gesichts. Selbst das ist bekanntlich umstritten, einige halten auch das Gesicht für tabu, aber selbst die liberalste Auslegung des islamischen Rechts definiert den ganzen übrigen Körper der Frau als ,awra‘, wie es im Arabischen heißt.


SZ: Unter den Bildern ist auch das Foto eines Toten, der in Plastiktüten voller Eis verpackt ist.

Haykel: Das ist furchtbar, weil man weiß, dass der Mann zu Tode gefoltert wurde, aber das ist einfach „nur“ grausam. Auch das Bild mit dem Mann, der an Elektroden angeschlossen auf dem Hocker steht, ist – so gesehen – nicht so schlimm. Diese Gewalt rührt nicht an das Schamgefühl, das tief in der Kultur verwurzelt ist. Das Schlimmste ist das Bild, auf dem sich eine Frau über den Penis eines nackten Gefangenen lustig macht. Wenn man jemanden zwingt, sich auf diese Weise anderen nackt zu zeigen, bricht man seine Menschenwürde. Buchstäblich.


» Für Moslems ist es, als ob man das Selbstverständnis eines Menschen zerschlägt. «


SZ: Reicht diese Entwürdigung über das westliche Empfinden hinaus?

Haykel: Für Moslems ist es, als ob man das Selbstverständnis eines Menschen zerschlägt. Denken Sie an das berühmte Beispiel aus der islamischen Frühgeschichte. Damals war das Vorbild für arabisch-moslemische Tugendhaftigkeit der Schwiegersohn und Cousin des Propheten, Ali. Während einer Schlacht versetzte Ali einem Gegner einen Streich mit dem Schwert. Während der Gegner zu Boden ging, verlor er sein Gewand und lag nun nackt vor Ali. Dieser wandt sich daraufhin ab und versetzte seinem Gegner nicht den Todesstoß, obwohl dieser sein Feind war. Der Prophet Mohammed fragte ihn daraufhin, warum er den Gegner nicht getötet habe, worauf ihm Ali antwortete, der Mann sei ja schon geschändet und das sei schlimmer als der Tod. Und der Prophet gab ihm recht. In solchen Geschichten liegen die Wurzeln der islamischen Kultur. Darum ist Nacktheit eine unermessliche Schande.


SZ: So grausam all die Bilder sind – waren es nicht am Ende doch vor allem Übergriffe brutaler Einzeltäter?

Haykel: Ich glaube, Seymour Hersh hat das in seinem Artikel im New Yorker richtig eingeschätzt – das waren vorsätzliche, geplante, systematische, institutionalisierte Praktiken. Das gilt auch für die Fotos – sie wurden aufgenommen, um neuen Häftlingen Angst einzujagen und zum Reden zu bringen. Wer auch immer den Amerikanern gesagt hat, dass sie das tun sollen, muss ein Araber gewesen sein, wahrscheinlich Mitglied eines arabischen Geheimdienstes, der genau wusste, an welchen Schwachstellen der Wille und das Selbstbewusstsein eines Häftlings zu brechen sind.


SZ: Welcher Geheimdienst könnte das gewesen sein?

Haykel: In bin mir ziemlich sicher, dass die Kuwaitis etwas damit zu tun hatten. Dazu gibt es eine Reihe von Berichten. Aber auch von den Ägyptern und den Jordaniern haben die Amerikaner einiges gelernt.


SZ: Sind solche Methoden in diesen Ländern üblich?

Haykel: Absolut. Arabische Regierungen verwenden sie systematisch.
Was alles noch schlimmer macht und worüber man noch gar nichts gehört hat, ist übrigens der Umstand, dass es in diesem Gefängnis einen ganzen Flügel für Frauen und Jugendliche gibt. Viele Araber werden sich deshalb fragen, wenn Männer so behandelt werden, was wird dann erst den Frauen angetan? Und für Frauen wäre so eine Behandlung noch zehnmal schlimmer.


SZ: Versteht die amerikanische Öffentlichkeit, was für eine Wirkung diese Bilder in der arabischen Öffentlichkeit haben?

Haykel: Ich glaube nicht. Amerikaner finden das alles ebenfalls grausam und schlimm, aber die wahre Bedeutung dieser Bilder erschließt sich ihnen nicht. Sie dürfen nicht vergessen, für die westliche Öffentlichkeit sind die Opfer ein paar Iraker, die misshandelt wurden. Für Araber und Moslems sind diese Bilder exemplarische Symbole für die gesamte Beziehung zwischen der islamischen und der westlichen Welt. Die Bilder bringen die ganze Dynamik aus Unterwerfung, Erniedrigung und Entmannung auf den Punkt. Al-Qaida spielt mit diesen Motiven schon lange. Sie sagen immer wieder, dass der arabische Mann vom Westen entmannt wurde, dass der Westen Frauen als Soldaten einsetzt, die sich über die Mannesehre der Araber lustig machen. Und jetzt bestätigen diese Bilder all das.


SZ: Das fiel also auf fruchtbaren Boden.

Haykel: Sie können sich überhaupt nicht vorstellen, wie fruchtbar der Boden war, auf den die Quälereien gefallen sind. Für al-Qaida waren diese Bilder ein unglaublicher Public-Relations-Coup. Sie dürfen auch nicht außer Acht lassen, dass die Analphabetenrate in vielen arabischen Staaten über fünfzig, sechzig Prozent liegt, schon deshalb haben Bilder hier eine Wirkung, die weit über jedes geschriebene Wort hinausreicht. Diese Bilder werden das einzige sein, was viele Menschen über diese Vorfälle erfahren. Sie werden nichts über den Kontext lesen oder verfolgen, was mit den Soldaten passiert, die das getan haben.


SZ: Hat es geholfen, dass sich George W. Bush entschuldigt hat?

Haykel: Ich glaube nicht, dass der Auftritt irgend etwas bewirken wird. An dem Mann ist für Araber so ziemlich alles ein Affront. Seine Wortwahl, seine Körpersprache, alles.


SZ: Welche Worte zum Beispiel?

Haykel: Er hat zum Beispiel gesagt, dass die Iraker verstehen müssen, dass die USA so handeln. Die Iraker müssen gar nichts. Bush hat Arabern und Moslems überhaupt nichts vorzuschreiben oder gar zu befehlen. Er hätte ja auch erklären können, dass er sich wünschte, die Iraker würden verstehen, dass die USA so handeln.


SZ: Liegt das nicht auch daran, dass die englische Sprache sehr bestimmt, die arabische Sprache hingegen sehr höflich ist?

Haykel: Nein. Der englische Premierminister zum Beispiel hat einen ganz anderen Stil. Da haben die Leute das Gefühl, er weiß, dass er zu einem anderen Volk auf gleicher Augenhöhe sprechen muss. Bei Bush schwingt nicht ein bisschen Entgegenkommen mit. Er besteht darauf, so sind wir – und entweder ihr akzeptiert uns so, wie wir nunmal sind, oder wir behandeln euch weiter wie bisher. Aber es geht sowieso längst nicht mehr um Worte, sondern um Handlungen. Die arabische Öffentlichkeit glaubt inzwischen, dass amerikanische Truppen im Irak genauso vorgehen wie die israelischen Truppen in Palästina. Da kann man nicht erwarten, dass sie sich von einer kurzen Ansprache umstimmen lassen. Es hilft auch nichts, wenn man irgendwelche Radio- und einen Fernsehsender in arabischer Sprache aufmacht. Propaganda reicht nicht mehr. Die Leute in den arabischen Ländern erwarten ganz konkrete Schritte. In diesem Teil der Welt haben die Vereinigten Staaten keine Glaubwürdigkeit mehr, nicht die allergeringste.

Interview: Andrian Kreye

SZ v. 07./08.05.2004