Hallo Peter,
Mich hat weder ein Schlag getroffen, noch ist irgendeine Funkstille bei mir eingetretten. Minzetee habe ich genug getrunken. Und bei jedem Schluck sind mehr unzählige Gedanken in den Sinn gekommen. Von allen haben mich nur zwei gefesselt; die eine beim Denken an unseren Bakkali. Wo ist er geblieben? Er ist wie die Moderne in unseren Landen. Zerredet ist sie bis geht nicht mehr. Erlebt wird sie noch nicht. Warum, frage ich mich, hat die Moderne keine Chance im Lande des Propheten. Sie ist weder Jeans, noch Sonnenbrillen und auch nicht Shopping bei Cartiert in Paris. Sie ist auch nicht Technik,Internet,PCs, Autobahnen. Sie ist viel mehr als das. Sie ist Sinngehalte. Wie soll dich nun diese meine Bestimmung so klar darstellen, dass sich auch unser Bakkali unverzögerlich einschaltet und uns mit seinem Diskurs der Moderne zu Angehörigen der globalen Welt verwandelt. Zu dieser heiklen Angelegenheit werde ich mit Sicherheit meinen Faquih an der Sorbonner Medresa Zu Rate ziehen. Er wird mich gewiss nicht enttäuschen. Sobald ich von ihm was habe, werde ich dir mitteilen. Du kannst dann deinem Wolfgang von unerem Elend durch die und mit der Moderne erzählen. Aber mit Wolfgang möchte auch irgendwann doch auf Jemaa el- Fna sitzen und veileicht mit ihm zusammen unseren treuen Zuhöreren von Hafiz erzählen. Wolfgang hat schon 168 jahre vor uns seine virtuelle Reise in den Orient zur Orientierung unternommen. Damals schon von der Gelehretenrepublik fliehend, machte er sich auf der Suche nach einem Bleiberecht in der geistigen Loge des Orients.
Die zweite Idee, die mich überfiel und nicht mehr losliess, war, wie kann ich dich vom unserem Ramonet ( ab jetzt heißt er nur noch Rahmouni, wegen Urheberrecht) benachrichtigen. Zu deiner Beruhigung. Er wird nach Marakkech doch fahren. Und ich bleibe ihm auf die Spur.
Also es war so. Irgendwann verschwand der Fürst von Essouira. Ich kann dir nicht sagen,wie das passierte. Wahrscheinlich haben ihn die Geister von Essaouira verschlungen. Denn seitdem sie wissen, dass er großen Wert darauf legt, die Gnawamusik in dieser idyllischen Stadt zu fördern, schlossen sie mit ihm einen Treuepakt. Er bringt das Geld in die Stadt und die Bewohner bieten ihre Kultur an. Tatsächlich liebt Azoulay die Ganawamusik wie viele andere Juden dieser Stadt. Wie sehr hätte ich ihn darauf gesprochen und von ihm abgehorcht, was er mit dieser für meinen Geschmack die Tiefen der Seele ansprechenden Musik assoziert. Leider ist er jetzt verschwunden. Ein Andermal, Möge uns der Moses vereinen.
Rahmouni geht jetzt in ein Cafe am Paltz neben dem Hafen. Er setzt sich auf die Terasse und zieht aus seiner Tasche einen Zettel raus. Er wühlt in seinen Hosen-und Westentaschen, bis er einen Stift findet.Er zündet eine Gouloise an und zieht so tief, bis die Zigarette glüht. Er tut das mehrmals und berührt dabei seinen grauen Schnurrbart und seine etwas weiter forgeschrittenen Geheimratsecken. Ein megriger kellner bringt ihm seinen Expresso, den er auf einmal trinkt. Rahmouni dreht andauernd seinen Stift in seiner rechten Hand. Er überlegt eine Weile und schreibt ein paar Zeilen. Ich kann problemlos alles lesen. Ich sitze am Tisch neben seinem. Er notiert aus einem Bericht der Weltbank vom 18 Julli: Immer mehr arme in Marokko. Die Zahl der Marokkaner in Not stieg um 50% in ungefähr 10 Jahren. Heute leben 19% der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze gegen 13% 1991...Die Unterbeschäftigung in den Städten liegt bei 23,4% der aktiven Bevölkerung mit steigender Tendenz. Das Land bräuchte ein Wachstumsrate von etwa 6 bis 8% um jährlich die Schaffung von 200 000 Arbeitsplätze zu erreichen. Die Wachstumsrate lag im Zeitraum von 91 bis 98 bei 1,9%."
Rahmouni mag Zahlen. Er war immer dafür begabt, seine Ausführungen mit Zahlen zu belegen.Er ist eben ein moderner Erzähler. Durch die Zahlen rekonstruiert er die Realität. Die Äußerlichkeiten wie die Lebensfreude der Einheimischen, ihr Kinderreichtum, ihre Vorliebe für die Familie, ihr Sinn für die Großzügigkeit interessieren ihn nicht. Sein Zahlenfetichismus soll ihm als Garant und Symbol seiner erzälerischen Kompetenz dienen.
Ich habe den Eindruck, dass die portugiesische Festung in Essaouira unseren Rahmouni nicht begeistert, Wahrscheinlich weil er andalusischer Abstammung ist. Und da bleibt ihm nicht andres als die Stadt zu verlassen auf dem Weg zu einem Ort, wo noch Spuren des arabo-andalusischen Lebenstiles vorhanden sind. Der nächstmögliche Ort ist die Stadt der Tausend und eine Touristin.
Wie kommt er denn dahin?
Bis spät!