In der Schule des Elends Unterricht und Wissenschaft bleiben in den arabischen Ländern weit hinter anderen Regionen zurück – die Folgen sind verheerend Von Rudolph Chimelli
Paris – Es gibt blühende Bäume in schütteren Wäldern. Aus Marokko bringt das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen die gute Nachricht, dass dort die Zahl der Mädchen, die zur Schule gehen, in den vergangenen fünf Jahren von 44 auf 82 Prozent gestiegen ist. Doch das ändert wenig daran, dass Marokko genau wie die meisten anderen Länder der arabischen Welt unter gewaltigen Rückständen in Bildung und Wissenschaft leidet. Der im Herbst zum zweiten Mal erschienene Jahresbericht des Regionalbüros für arabische Länder beim UN-Entwicklungs-Programm stellt fest, das quantitative Wachstum der Erziehung in den 22 Staaten der Arabischen Liga sei in den vergangenen Jahrzehnten „bescheiden“ gewesen, verglichen mit dem anderer Entwicklungsländer. Unter Frauen bleibe das Analphabetentum hoch. Zwar ist der Anteil der Analphabeten in den vergangenen drei Jahrzehnten von 60 auf 43 Prozent gesunken. Ihre absolute Zahl, derzeit etwa 60 Millionen, steigt jedoch in der arabischen Welt. „Viele Kinder haben immer noch keinen Zugang zur Grundbildung. In der höheren Erziehung gehen die Einschreibungsraten zurück. Die öffentlichen Ausgaben für Erziehung sind seit 1985 sogar gesunken“, heißt es in dem Dokument.
Ausbildung zum Eckensteher
Weltweit verweist die UN-Statistik für menschliche Entwicklung Marokko auf Platz 126.
Lesen und schreiben können demnach 49 Prozent der Marokkaner, 51 Prozent der Kinder besuchen Grundschulen oder höhere Schulen. Nur der Jemen und Mauretanien stehen auf jener Liste, die neben Erziehung andere Faktoren wie Lebenserwartung, Gesundheitsfürsorge oder Ernährung berücksichtigt, noch weiter unten. Der blühende Baum könnte sich also als Fata Morgana erweisen.
Immerhin: In Jordanien sind 90 Prozent der Einwohner des Lesens und Schreibens mächtig, in den Palästinensergebieten 89, im Libanon 86, in Syrien 76 Prozent. Auch die Staaten der Arabischen Halbinsel stehen verhältnismäßig gut da, Kuwait etwa mit nur 18 Prozent Analphabeten.
In den arabischen Ländern wächst die Bevölkerung sprunghaft. Von 280 Millionen Arabern sind 38 Prozent jünger als 14 Jahre. Das bedeutet, dass es sich bei den Analphabeten in Ländern mit funktionierendem Schulsystem ganz überwiegend um ältere Menschen handelt.
Marokkos Nachbarn, die Maghreb-Staaten, sind dafür typisch. Tunesien meldet 72 Prozent Lese- und Schreibkundige, Libyen 70 Prozent, Algerien 69 Prozent. So gut wie alle Kinder gehen in diesen Ländern zur Schule, wenigstens einige Jahre lang.
In Algerien wird freilich auch am deutlichsten, dass eine rein quantitative Sicht der Realität überhaupt nicht gerecht wird. Die häufigste Beschäftigung junger Männer ist dort „Hitist“ – die arabisch-französische Bezeichnung für Eckensteher. Offiziell sind 46 Prozent der jungen Männer arbeitslos. Tatsächlich dürften es gegen 70 Prozent sein. Beide Geschlechter können in diesem nordafrikanischen Land ohne Diskriminierung Schulen und Universitäten besuchen, und von den jungen Mädchen sind nach offiziellen Zahlen nur 14 Prozent arbeitslos.
Das bedeutet leider nicht, dass Mädchen bessere Chancen hätten, eine Stelle zu finden: Ihre Chancen sind so schlecht, dass sie sich gar nicht melden. In einer Reihe arabischer Länder sind Studentinnen an den Hochschulen bereits in der Mehrzahl gegenüber ihren männlichen Kommilitonen.
Aber wenn das Studium zu Ende ist, reihen sich die meisten unfreiwillig in das Riesenheer von Müttern und Ehefrauen ein, das hinter verschlossenen Haustüren ein soziales Netz in Stand hält, wie es staatliche Institutionen nie bieten könnten.
Mehrmals haben in Marokko in den vergangenen Jahren Scharen junger Akademiker den Zugang zum Parlament, zu Ministerien oder zu Universitäten blockiert. Sie kampierten wochenlang auf der Straße. Ein Sprecher des Ex-Premierministers Abderrahman Youssoufi fand die Formel von „200000 Arbeitslosen mit Diplom“. Denn nach beendetem Studium gibt es nur schwer eine Stelle, oder häufig lediglich eine unqualifizierte Beschäftigung. Nur Touristen wundern sich über studierte Fremdenführer, Taxifahrer und Verkäufer.
Ägypten fand für das Problem eine Scheinlösung, indem der Staat jahrzehntelang jeden Universitätsabsolventen einstellte. Diese saßen scharenweise in Ministerien herum, langweilten sich und bezogen ein miserables Gehalt. Doch das kann sich längst kein arabisches Land mehr leisten.
Die Bildungsmisere ist nur die Basis einer Pyramide. Das vielleicht folgen-schwerste Defizit besteht an der Spitze.
Keine andere vergleichbare Region auf Erden gibt so wenig für die Forschung aus wie die arabische Welt: nur 0,4 Prozent ihres Bruttosozialprodukts (Kuba 1,2 Prozent, Israel 2,3 Prozent, Japan 2,9 Prozent).
Entsprechend niedrig ist die Zahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Wieder ist die Aussagekraft von Zahlen gering. Wie viele Publikationen innovativ sind, wie viele nur das Niveau von Seminararbeiten erreichen, geht daraus nicht hervor.
Ägypten als intellektuelles Zentrum kann auf 12 000 Publikationen verweisen, die binnen fünf Jahren in international anerkannten Zeitschriften erschienen sind. Aber dann folgt mit 8000 Artikeln Saudi-Arabien, dessen Hochschulen unter Arabern nicht als Leuchttürme unabhängiger Wissenschaft gelten. Der Libanon mit seinen renommierten Universitäten steht mit 500 Arbeiten fast an letzter Stelle.
Zwischen Spitze und Basis der Pyramide liegen die Bereiche des täglichen Umgangs mit dem geschriebenen oder gedruckten Wort. Je tausend Araber haben 53 Zeitungsexemplare zu ihrer Verfügung. In entwickelten Ländern sind es im Durchschnitt 285. Dieser Unterschied wird allerdings dadurch relativiert, dass die Zahl der Mehrfachleser und der Zuhörer von Zeitungs-Vorlesern im Nahen Osten viel höher ist. In den vergangenen elf Jahrhunderten wurden 100000 Bücher aus anderen Sprachen ins Arabische übersetzt.
Dass es unter den besseren Kommunikationsverhältnissen der Gegenwart immer noch nur 330 im Jahr sind, dafür sind Zensur, Bürokratie und Armut verantwortlich, nicht nur intellektuelle Rückständigkeit der arabischen Welt.
Es stellt sich die Frage: Gibt es diese arabische Welt überhaupt? Als Sprach- und Kulturgemeinschaft zweifellos. Sogar auf diesem gemeinsamen Nenner sind indessen die geographischen, historischen, ethnischen und wirtschaftlichen Unterschiede so groß, dass Aussagen für die Gesamtheit fragwürdig werden.
Die Probleme sind sehr verschieden, die materiellen Möglichkeiten zu ihrer Lösung in reichen Erdölstaaten viel besser als in übervölkerten Agrarländern oder in Wüstengebieten ohne Ressourcen. Die Voraussetzungen für die Entwicklung moderner Schreib- und Lesegesellschaften werden in Algier und im Hadramaut, in Aleppo und in Mauretanien, für Stadtbürger und Beduinen nicht von den selben Faktoren bestimmt.
Noch wichtiger ist die zweite Frage, ob diese Rückständigkeit spezifisch arabisch ist. Einiges spricht dagegen. Die selbe Unterentwicklung tritt mit gleichen Erscheinungsformen auch in nicht-arabischen Ländern der islamischen Welt auf, in Pakistan und Afghanistan, in den Republiken des früher sowjetischen Zentralasiens und in Bangladesch, in Indonesien oder in Eritrea.
Doch auch der Islam ist anscheinend nicht das entscheidende Hindernis für die erfolgreiche Übernahme moderner Alphabetisierungsformen. In Äthiopien und Madagaskar, in großen Teilen Schwarzafrikas und in Haiti sowie in einigen ärmeren Staaten Lateinamerikas sieht es ganz ähnlich aus. Weder vom Islam noch vom Christentum geprägt, aber dennoch schreibgehemmt sind auch Indien, Burma und noch sehr viele Länder anderer Kulturen.
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