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Mormonen-Sekte

Die verlorenen Söhne der Polygamisten

Von Alexander Schwabe

Um auch in Zukunft ihre Harems zu sichern, greifen zwei fundamentalistische Mormonen-Gemeinden zu drastischen Mitteln: Seit der selbsternannte Prophet Warren Jeffs das Regiment in den Städtchen Hildale und Colorado City führt, wurden mehr als 400 junge Männer von den Platzhirschen vertrieben.

Hamburg - Im Büro von Mark Shurtleff im amerikanischen Bundesstaat Utah spielen sich hin und wieder erschütternde Szenen ab. 16-, 17-, 18-jährige Jungs sitzen dem Staatsanwalt gegenüber und sind verzweifelt. Manchmal brechen sie in Tränen aus. Grund: Sie wollen ihre Mütter wieder sehen. Gideon Barlow etwa, ein 17-jähriger Junge mit Sommersprossen, sagt: "Ich kapiere nicht, wie meine Mutter zulassen konnte, was sie mir angetan haben."

Nach Angaben der "Los Angeles Times" ist Barlow einer von mehr als 400 "Lost Boys" ("Verlorene Jungen"), die in den vergangenen vier Jahren aus den weniger als eine Meile auseinander liegenden Siedlungen Hildale und Colorado City getrieben wurden. Die Orte sind Hochburgen der Fundamentalistischen Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (FLDS), einer sektiererischen Abspaltung der Mormonen-Kirche.

An ihn sei schon mehrfach der Wunsch herangetragen worden, gegen Eltern gerichtlich vorzugehen, die ihre jugendlichen Kinder aussetzten, sagt Shurtleff der Zeitung. "Doch die Jugendlichen wollen nicht, dass ihre Eltern angeklagt werden - sie wollen, dass wir uns den bad guy Nummer eins vorknöpfen: Warren Jeffs. Er ist in erster Linie dafür verantwortlich, dass die Jungs verstoßen werden."

Warren Jeffs regiert seit 2002 die abgeschotteten Gemeinden an der Grenze zwischen Utah und Arizona. Er gilt als der neue Prophet der FLDS. Er trat die Nachfolge seines Vaters Rulon an, der 70 Ehefrauen gehabt haben soll. Jeffs glaubt, der Weltuntergang stehe unmittelbar bevor. Sein Vater hatte vorausgesagt, die Welt werde im Jahr 2000 durch Feuer sauber gefegt werden. Der Sohn predigt vor diesem Hintergrund, die Anschläge vom 11. September 2001 seien ein sehr gutes Zeichen und Grund großer Hoffnung.

Anklage gegen den Propheten

Ende vergangener Woche wurde Warren Jeffs in Arizona angeklagt, eine Heirat zwischen einem 28-Jährigen, der bereits verheiratet ist, und einer 16-Jährigen angebahnt zu haben. Sollte Jeffs verurteilt werden, drohen ihm zwei Jahre Haft. Doch bisher wurde der selbsternannte Prophet weder verhaftet noch weiß man genau, wo er sich derzeit aufhält. Er wird in Texas vermutet.

Die Behörden, die das Treiben in der Polygamisten-Hochburg lange duldeten, fahren mittlerweile einen rigoroseren Kurs gegen den Endzeitprediger. Vor genau einer Woche hatte ein Richter im Bundesstaat Utah veranlasst, die Vermögenswerte einer von Jeffs kontrollierten Gesellschaft einzufrieren, die das meiste Land und die meisten Immobilien in den beiden Stätten der Vielweiberei besitzt.

Auch fünf der "Lost Boys" versuchen Jeffs in Utah gerichtlich zu belangen. Er soll sie verbannt haben, damit Kirchen-Älteste mehr Auswahl unter den Frauen hätten, klagen sie. Diese Auffassung teilen die amerikanischen Behörden. Ihnen zufolge werden die unliebsamen Jugendlichen ausgesetzt, um die nachwachsende Konkurrenz zu stutzen. An einem Ort, wo die Herren der Schöpfung unter Umständen Dutzende Frauen haben können, sind zu viele Männer störend für die Platzhirsche. "Es ist eine Frage der Mathematik. Wenn alle junge Frauen an einen Mann verheiratet werden, was macht man mit den jungen Männern?", fragt Staatsanwalt Shurtleff.

Insgesamt gehören den Gemeinschaften am Fuße der rotfarbenen, majestätischen Vermillion Cliffs zwischen 10.000 und 15.000 Mitglieder an. Die Sekte hatte sich vor rund 100 Jahren von der Mutterkirche abgespalten. Während die offizielle Mormonen-Kirche die Polygamie abgeschafft hat, halten die extremen Fundamentalisten an der Vielehe fest. Um in die höchsten Sphären des Himmels zu kommen, muss ein Mann ihrer Vorstellung nach mindestens drei Ehefrauen haben.

Eine Welt kruder Ansichten

Seit Warren Jeffs die FLDS bestimme, habe die Zahl der "Lost Boys" zugenommen, sagt der Zahnarzt Dan Fischer, früher selbst Mitglied der Sekte. Fischer lebt in der Nähe von Salt Lake City und engagiert sich in einem Netzwerk, das den verlorenen Söhnen Hilfe bieten will. Die ist in den meisten Fällen dringend nötig. Denn die Verstoßenen kommen aus einer Welt kruder Ansichten, aus einer Welt, in der gelehrt wird, dass Dinosaurier von anderen Planeten kamen und noch nie ein Mensch auf dem Mond war. Und nun sehen sie Salt Lake City oder Las Vegas - eine Welt, vor der sie in ihren Enklaven gewarnt wurden. Viele kämen mit der ungewohnten Umgebung nicht klar und griffen zu Alkohol oder anderen Drogen, sagt Fischers Kollege Dave Bills.

Laut Bills haben viele der "Lost Boys" emotionale Probleme: "Stellen Sie sich vor, Sie fragen einen 16-Jährigen: 'Was wünschst Du Dir am allermeisten?', und er antwortet: 'Ich möchte meine Mami sehen.'"

Der verstoßene 17-jährige Gideon Barlow hat vorerst keine Chance, mit seiner Mutter in Kontakt zu treten. Als er sie am Muttertag besuchen wollte, habe sie ihn wissen lassen, dass er nicht erwünscht sei. Als er sie bat, ihr ein Geschenk überbringen zu dürfen, erwiderte sie, sie wolle nichts annehmen.

Frauen und Kinder wurden aufgeteilt

Gideons Vater hat nach den Angaben des Sohnes insgesamt 71 Kinder mit acht Frauen. Der 73-Jährige gehört zu den Pionieren von Colorado City. Lange Zeit war er Bürgermeister in der Frommen-Siedlung. Dann kam es jedoch zu Meinungsverschiedenheiten mit Jeffs, der daraufhin Barlow und 20 weitere Männer aus der Gemeinde ausschloss.

Nach Angaben örtlicher Behörden und laut Zeugenaussagen teilte Jeffs die Frauen und Kinder der Verdammten unter den verbleibenden Männern auf. Gideon wurde einem neuen Familienoberhaupt zugewiesen. Der Druck auf ihn habe zugenommen, sagt Gideon, sein neuer Vater habe es nicht zugelassen, dass er Musik gehört, Shirts mit kurzen Armen getragen und sich mit Mädchen getroffen habe. Schließlich habe ihm Jeffs befohlen, die Stadt zu verlassen.

Manche der Verstoßenen geben an, man habe ihnen gerade einmal zwei Stunden eingeräumt, ihre Sachen zu packen und sich aus ihrer vertrauten Umgebung zu verabschieden. Dann seien sie in die Städtchen St. George oder Hurricane gebracht und wie unliebsame Hunde ausgesetzt worden.

Gideon Barlow hatte noch Glück im Unglück. Er kam bei einem liberalen Mormonen-Ehepaar unter.