Hier ein Artikel aus der SZ- ausgabe 28.8.01
Vor allem Intellektuelle formieren sich zur Berber-Bewegung in Marokko: „Fortschrittlich, modern, universalistisch, laizistisch“
Die Kraft drängt aus dem Urgestein
Sie sind verfemt und unterdrückt in ganz Nordafrika – das verstreute Volk der Ureinwohner erhebt seine Forderungen nach Gleichstellung immer lauter
Von Rudolph Chimelli
Meknes – Er hieß Massinissa, so wie jener Berber-König, der sich im zweiten Jahrhundert vor Christus aus der Konkursmasse von Karthago ein Großreich herausgeschnitten hatte. Der zweite Massinissa ist seit vier Monaten tot und obwohl er nur 16 Jahre alt wurde, ist er als Märtyrer der nationalen Sache unter Berbern inzwischen mindestens so berühmt wie der antike Monarch.
Algerische Gendarmen hatten den bis dahin unbekannten und unbescholtenen Gymnasiasten in seinem Heimatort Beni Douala bei Tizi-Ouzou mit auf die Wache genommen – aus ungeklärten Gründen. Was danach geschah, beschreibt ein Mitschüler so: „Ich sah, wie ein Gendarm mit seiner Waffe hantierte. Dann geriet ich in Panik und hielt die Hände vor die Augen. Ich hörte das Rattern von Schüssen und noch eine zweite Salve. Als ich die Augen aufmachte, lag Massinissa Guermah in einer Blutlache. Sein Körper zuckte noch. “ Erst drei Tage danach erklärte das Gendarmerie-Kommando die zwölf Schüsse aus einer Kalaschnikow zum „bedauerlichen Unfall“, bezeichnete den Toten aber gleichzeitig als „Dieb“. Bei Protesten, die seit jenem 18. April in der Kabylei und anderen Teilen Algeriens immer wieder aufflammen, wurden um die hundert Menschen erschossen. Und nichts mehr ist für das Volk der Berber wie vorher.
Aus Beni Douala kann man derzeit keine Berber-Geschichte schreiben. Auch nicht aus Tizi-Ouzou, dem Zentrum der Kabylei, nur etwa hundert Kilometer im Bergland östlich der Hauptstadt. Algerien ist sparsam mit Visa für Journalisten. Selbst in Algier begleiten Sicherheitsleute jeden angereisten Korrespondenten auf Schritt und Tritt, sobald er sein Hotel verlässt. Ausflüge in Krisengebiete werden in aller Regel nicht erlaubt. Sowohl die Operationen gegen den islamischen Untergrund als auch die Unterdrückung des Berber- Aufruhrs sollen unter Ausschluss der Öffentlichkeit erfolgen. Doch Berber gibt es nicht nur in der Kabylei, sondern in vielen Gebieten Nordafrikas.
Muttersprache Tamazight
Von 30 Millionen Algeriern bekennen sich sechs bis sieben Millionen zu Sprache und Identität der Berber. Unter den Marokkanern, gleichfalls an die 30 Millionen, sind es etwa zwölf Millionen. Tuaregs und andere Bewohner der Sahara und der Sahelzone zwischen Mauretanien und Niger – eine weitere Million – sind gleichfalls ethnisch Berber. In Tunesien bestehen Enklaven von 50 000 Berbern auf der Insel Dscherba und in einigen Dörfern des Südens. Für Libyen liegen keine Schätzungen vor. Als östlicher Vorposten der Berber gilt die ägyptische Oase Siwa. Und seinen ersten Welt-Kongress hielt das verstreute Volk im August 1996 auf Las Palmas ab, denn die Kanarischen Inseln betrachten die Berber als westlichen Rand ihrer Diaspora.
„Wir sind alle Berber“, sagt Lahcen Oulhaj, Professor der Nationalökonomie an der Universität Rabat. „Als die arabischen Eroberer in den Maghreb vordrangen, waren sie ein Prozent der Bevölkerung, 100 000 Mann bei damals zehn Millionen Einwohnern.“ Noch zu Beginn des 20.Jahrhunderts sei „Tamazight“ – der Oberbegriff für alle Berber-Idiome – Muttersprache von 90 Prozent aller Marokkaner gewesen. Nur einmal seit der Unabhängigkeit wurde bei einer Volkszählung nach der Sprache gefragt, das Ergebnis aber nie veröffentlicht. Während der Siebzigerjahre saß Oulhaj, einer der Führer der marokkanischen Berber-Bewegung, als Maoist im Gefängnis. Wenn seine Mutter ihn besuchte, musste er mit ihr Arabisch sprechen.
Immer schon waren die berberischen Ureinwohner Nordafrikas renitent gegen Eroberer. Ihre Kolonisierung durch Rom blieb an der Oberfläche. Obwohl es ein Berber, der heilige Augustinus, bis zum Kirchenvater brachte, setzte sich das Christentum nur langsam durch. Erst im 12.Jahrhundert erlosch der Widerstand gegen den Islam, den die Araber brachten. Eine volkstümliche Symbolfigur dieser Epoche ist bis heute die Berber-Königin Kahina – für muslimische Historiker eine böse Zauberin. Im Lokal der berberischen Kultur- Vereinigung „Asidd“ in Meknes hängt ihr Bild neben denen der beiden Massinissas.
Wenn der Neurochirurg Youssef Agouri und sein Freund Ighraz Mimoun, pensionierter Schulinspektor, miteinander reden, sprechen die beiden Asidd- Führer Tamazight, gemischt mit arabischen Brocken, oder rundheraus Französisch. Die Intifada in der Kabylei ist ein Volksaufstand, der auch auf arabische Algerier übergreift, weil Armut, Arbeitslosigkeit und Überdruss an einem korrupten Regime der Zündstoff sind. In Marokko hingegen ist die Berber- Bewegung noch weit gehend eine Sache von Intellektuellen. Zunächst 229 Universitätslehrer, Schriftsteller, Künstler, Geschäftsleute und Beamte haben letztes Jahr ein Manifest unterzeichnet, das sprachliche, kulturelle und soziale Gleichstellung fordert. Eine Partei wurde bisher nicht gegründet, denn ob das Berbertum links steht oder rechts, ist noch nicht heraus. Selber definiert sich die Bewegung inzwischen als „fortschrittlich, modern, universalistisch und laizistisch“.
Marokkos König Mohammed VI. hat in seiner jüngsten Thronrede die Gründung eines „Instituts für Amazigh (=Berber)-Kultur“ angekündigt. Es soll „die Säulen unserer von den Vorfahren ererbten Identität stärken“ und für ihre Integration ins Erziehungssystem sorgen. Die Kultur der Berber nannte der König, selber Sohn einer berberischen Mutter, einen „nationalen Schatz“. Vorsichtig-beifällig reagierte die Bewegung, denn ähnliche Versprechungen gab es schon früher. Immer noch ist Arabisch die einzige Staatssprache. Das Fernsehen sendet täglich dreimal sieben Minuten in den drei Berber-Dialekten. Das ist alles. In Casablanca kämpften Eltern jahrelang, bis sie ihren Sohn Idir nennen durften. Ein Erlass verbietet Standesbeamten, unarabische Namen einzutragen. Ortsschilder wurden arabisiert. Nicht einmal eine Tamazigh- Übersetzung des Koran darf gedruckt werden: Die religiöse Autorität des Königs, der als „Kommandeur der Gläubigen“ islamische Orthodoxie garantiert, könnte darunter leiden.
Mimoun und Agouri zeigen auf reiche Felder links und rechts der Straße von Meknes in die Berge. Das Land war Gemeinbesitz der Berberstämme Ait Nder und Ait Nahman bis die Franzosen es für ihre Siedler konfiszierten. Nach der Unabhängigkeit übertrug das Königreich den Boden an Angehörige der arabischen Stadt-Elite von Fez. Die Berber wollen ihr Land zurück. Längst geht es nicht mehr allein um Kultur. „Wir sind keine Araber! Korrigiert die Geschichte! Genug mit der Folklore!“ riefen berberische Gewerkschafter erstmals beim Mai- Umzug in Casablanca. Aber die Führer der Bewegung haben rasch begriffen, dass selbst die Duldung, die sie neuerdings genießen, gefährlich ist: Sie könnten als Blitzableiter gegen die Islamisten benutzt werden. Einst haben arabische Regime diskret die Fundamentalisten gefördert, damit sie ihnen die Agitation der Marxisten vom Hals hielten. Jetzt könnten „fortschrittliche, laizistische“ Berber eine ähnliche Funktion übernehmen.
Der ermordete Sänger
Der junge Mann im Straßencafé in Rabat trägt ein T-Shirt, dessen Brust-Dekor ein blaues Straßenschild der Art ist wie sie überall in Frankreich hängen. „Rue Lounes Matoub“ steht darauf. Der vor drei Jahren ermordete Sänger war das Idol der Kabylei. „Ich bin weder Araber noch verpflichtet, Muslim zu sein“, schrieb er in der Zeitung Rebelle. „Mein Volk weigert sich seit dem 7.Jahrhundert, seine Werte für die des Islam zu verkaufen“, sagte er dem französischen Express. Und zur Melodie der algerischen Nationalhymne sang er aufrührerische Verse mit der Schlusszeile: „Säubern wir Algerien vom Verrat!“ Die Islamisten hassten Matoub, das Regime auch.
Das Original des Straßenschildes hängt in Grenoble. Auch in der Diaspora verwalten sich die Berber durch ein „Arch“, ein Dorf-Komitee wie in der Heimat. Ein Komitee in den Niederlanden schickt Geld, damit kabylische Dörfer die Straßen reparieren können, die der Staat vernachlässigt. Und wenn der Pariser Arch es befiehlt, dann demonstrieren hupende Taxifahrer vor dem Europarat.
Sympathien unter Berbern sind grenzüberschreitend. Aber ob sie vom ethnischen Urgestein unter dem arabischen Profil Nordafrikas je zur politischen Kraft werden, ist ungewiss.
Als Algeriens Präsident Abedelaziz Bouteflika im Fernsehen die Einsetzung einer Kommission zur Untersuchung der von der Gendarmerie begangenen Massaker verkündete, sprach er bewusst Hoch-Arabisch. Die Kommission stellte fest, die Gendarmen seien gegen das Volk „wie in einem Krieg“ vorgegangen, die Verantwortung für den Schießbefehl sei nicht aufklärbar, vielleicht habe man Splittermunition verwendet. Konsequenzen: Keine.
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