nullDIE VERBORGENE KINDHEIT


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DIE NEUERE MAROKKANISCHE LITERATUR

KURZE INHALTSBESCHREIBUNG
Es ist ein wenig die Geschichte des marokkanischen Volkes nach der Unabhängigkeit. Sie beschreibt den Weg eines Berberjungen namens Nurredine vom Rande der Wüste durch die Städte Casablanca, Fés und Tanger bis nach Paris.

Nurredine ist in einem Berber-Dorf groß geworden, das in Elend verfallen ist, nachdem alle Männer es verlassen haben, um in Frankreich Arbeit zu finden. Er fragt sich, wann seine Kindheit endlich beginnen werde. Er glaubt, erwachsen geboren worden zu sein. Der Junge hat, wie die meisten Marokkaner, weder Lesen noch Schreiben gelernt. Er kennt die Musik, beherrscht das Spiel auf der Laute und weiß hundert Geschichten. All sein Wissen ist ihm von den Alten mündlich übertragen worden. Als auch er das Berber-Dorf verlassen will, um in den Städten nach Arbeit zu suchen, gibt der alte Fqih (Rechtsgelehrter oder jemand der Amulette schreibt) ihm einen Stein. Darin sei seine Kindheit aufbewahrt.

Nurredine begegnet auf seiner Reise verschiedenen Figuren aus der Literatur Ben Jellouns, Choukris, Mrabets, Chraibis, Khair-Eddines, Khatibis, Laabis usw., die ihm weiterhelfen. Er lernt das Schreiben in arabischen Lettern und begegnet der Zweisprachigkeit - und damit der Zweideutigkeit. Ihm wird dabei klar, daß seine Geschichten nur leben, wenn er sie erzählt oder wenn er sie auf seiner Laute "spielt".

Durch einen in Paris lebenden Schriftsteller, der seit langem die Heimat verlassen hat, erkennt Nureddine schließlich auch, daß sich zwei Sprachen nicht zu einer vereinigen lassen, wie die polyphone Musik sich nicht mit der monodisch-modalen Musik vereinigen läßt. Das führt bei ihm aber keineswegs zu einem Konflikt. Er faßt den Vorteil, gleichzeitig zwei verschiedenen Systemen anzugehören, als persönliche Bereicherung auf. Ihm öffnet sich ein neues Weltbild; denn in ihm hat die Fusion zweier Seelen stattgefunden. Leichten Herzens schenkt er dem Schriftsteller seinen Stein; denn endlich hat er seine Kindheit gefunden.

IM DORF AM RANDE DER WÃœSTE

- Nureddine, der Berberjunge, ist 15 Jahre alt.

GESCHICHTENERZÄHLER:
Wenn er traurig war, stieg er auf einen Baum und hing seinen Träumen nach. Er fragte sich, wann wohl seine Kindheit anfangen würde. Er war erwachsen geboren worden, wie andere behindert geboren werden.

- In Nureddine's gottverlassenem Dorf am Rande der Sahara leben nur Frauen, Kinder und Alte. Die Männer haben es verlassen, um in Frankreich oder Italien Arbeit zu finden. Es gibt keine Straße, keinen Strom, und Wasser nur, wenn es regnet. Nureddine lebt bei seiner Großmutter.

GROSSMUTTER:
All diese Steine liegen auf einer sehr braunen Erdscholle, dem Urstoff unseres Lebens, der Erde unserer Erde, dem schwarzen Sand unserer Leidenschaften, dem tiefen Bett, in dem unsere Vorfahren ruhen; diese Erde ist vom Geist unserer Eltern und der Eltern unserer Eltern beseelt; sie ist wie Asche; wenn eine fremde Hand sie berührt, wird sie Glut und verbrennt die unberechtigt eingedrungenen Finger.

- Nureddine mag zwei Greise: Großvater Said, der allein in einer Lehmhütte oben am Berg Tizi-n-Tafilalet lebt, ein batteriebetriebenes Radio besitzt und weiß, wie es in der Welt aussieht.

GROSSVATER SAID:
Wer sein Land verläßt, ist ein verlorener Mann ... wer die Wurzeln sei-ner Herkunft herausreißt, zieht das Unheil auf sich ....

- Und Großvater Omar, der alle Wörter, die Namen aller Städte und Länder, alle Träume und alle Märchen kennt. Er erklärt auch die Träume der Leute.

GROSSVATER OMAR:
Diese Träume sind so alt wie die Welt; sie mußten durch so viele Nächte hin-durch, daß sie, wenn sie von euch übermittelt bei mir ankommen, beschädigt sind. Ich muß sie wiederherstellen, zumal ihr einfach irgendwie erzählt; ich errate den Anfang und das Ende, ich phantasiere, ich erfinde, und ich irre mich selten.

- Nureddine mag die beiden alten Männer: Der eine, Said, ist für ihn der Kontakt zu jener fremden Welt, in die all die Männer aus dem Dorf gegangen sind, um Arbeit zu finden. Die Welt, aus der all die fremden Sprachen, die Stimmen und die seltsame Musik durch das Radio zu ihnen in die Wüste dringt. Der andere, Omar, ist der Kontakt zu der archaischen und imma-ginären Welt, zur Phantasie. Durch ihn hat er die hundert und hundert Geschichten erfahren, die nun zu ihm gehören, wie der Baum zu ihm gehört, in dem er seinen Träumen nachhängt.

GESCHICHTENERZÄHLER:
Die Geschichten kamen zu ihm, sie bewohnten ihn und veränderten ihn.

- Es gibt im Dorf noch einen dritten Alten, dem Nureddine's besondere Aufmerksamkeit gehört; das ist Jussuf, der Fqih, der wie kein anderer das Spiel auf der Rebab beherrscht, dem zweisaitigen Streich- oder Zupfinstrument der Berber. Nureddine hat durch ihn auch die Laute kennen-gelernt. Für ihn war der Ursprung der Töne zuerst ein Rätsel.

JUSSUF:
Diese Töne kommen aus dem Jenseits. Es sind die Stimmen unserer Vorfahren. Wenn du ihrem Klang aufmerksam folgst, dann verstehst du ihre Sprache. Es ist eine Sprache ohne Worte. Diese Sprache ist plötzlich in dei-nem Bewußtsein. Und da bleibt sie dann. Das Denken hat damit nichts zu tun.

- Nureddine lernt durch Jussuf dem Fqih, daß Intuition und Poesie auf keine Schrift angewiesen sind - daß sie als Energie bestehen - ob Musik oder Literatur.

GESCHICHTENERZÄHLER:
Er mußte die Geschichten aus seinem Körper herausholen, um überfüllte Fächer freizumachen und neue Geschichten aufzunehmen. Dazu brauchte er seine Laute. Er zupfte die Geschichten in seine Laute. Die Wörter wurden zu Tönen. Die Stimmen in ihm vermischten sich mit den Stimmen aus dem Jenseits. Es schien als hörten die Steine und die Vögel ihm zu.

- Jussuf weiß, daß es auch Nureddine bald aus dem Dorf hinausziehen wird. Er gibt ihm einen Stein ...

JUSSUF:
In diesem Stein ist deine Kindheit verborgen. Es ist ein glatter Stein. Er fühlt sich gut an. Du darfst ihn nicht verlieren. Er ist der Stein deiner Erinnerung.

- Als Nureddine schließlich seiner Großmutter gesteht, daß auch er das Dorf verlassen wolle, wie die anderen Männer, ist sie traurig. Sie hilft ihm, die Tasche zu packen und gibt ihm das Reisegeld, das sie seit langem in einer Tajine aufbewahrt:

GROSSMUTTER:
Eines Tages wirst du lesen und schreiben lernen, das weiß ich. Aber erinnere dich immer daran: hier in diesem Dorf können wir weder lesen noch schreiben; deshalb sind wir aber nicht hohl. Wir wissen andere Dinge, die man dir in den Schulen nicht beibringen wird. Unsere Hände zum Beispiel sind gebildeter als unsere Köpfe; unsere Füße kennen Orte, die kein Buch beschreibt; unsere Haut bewahrt die Erinnerung an soviel Sonne und Regen; unsere Sinne genügen uns, um das Neue vom Alten zu unterscheiden. Unsere Schule ist die Natur, ist das, was unsere Ahnen uns von ihrem Weilen hienieden, auf diesem Stück Erde, in diesem zwi-schen zwei Gebirgen eingezwängten Dorf überliefert haben.

NUREDDINE AUF DER REISE

- Im Autobus nach Casablanca trifft Nureddine einen arabischen Jungen namens Kair, aus der Stadt. Er erzählt ihm von seinem Dorf.

NUREDDINE:
In meinem Dorf sagt man viele Dinge. Man glaubt sie, man tut so, als glaube man sie. Jedenfalls gibt es nichts zu tun. Man muß sich eben beschäftigen, Geschichten erfinden und daran glauben, vor allem wenn die Dämmerung die Ebene einhüllt und jede Begegnung unsicher macht.
Wenn man in diesen kahlen, von allen verlassenen Dörfern lebt, träumt man so lange, bis man an Legenden glaubt, die für ein Kindermärchenbuch geeignet wären. Ich glaube an diese Geschichten.
Mir selbst und den Steinen erzähle ich sie mit meiner Laute. Aber dir könnte ich sie mit Worten erzählen.

- Nureddine spielt eine Legende auf der Laute und schläft dann ein. Die Fahrt dauert und ist anstrengend. Als er aufwacht ist Kair verschwunden - zusammen mit ihm auch der Beutel mit dem Reisegeld. Der Stein aber ist Nureddine geblieben.

IN CASABLANCA

- Zu stolz, jemanden um Hilfe zu bitten, und zu beschämt, mit leeren Händen in sein Dorf zurückzukehren, versucht Nureddine in Casablanca vorübergehend eine Arbeit zu finden. Es gelingt ihm zuerst nicht. Die Härte des Lebens stürzt mit ihrem ganzen Gewicht auf ihn ein. Doch er hat den Stein, der ihm Sicherheit gibt, und die Laute, mit der er die über-füllten Fächer freimachen kann, um neue Geschichten aufzunehmen. Er trifft mit anderen Jungen zusammen, die ihm von ihrem Leben auf der Straße erzählen.

MOHAMED DER STRASSENJUNGE:
Eine Katze ist besser dran als ich. Sie ist imstande, die Fische vom Abfall zu essen, ohne sich zu erbrechen. Ich werde stehlen und betteln, doch ich bin schon fast sechzehn. Betteln ist das Geschäft der Kinder und der gebrechlichen Alten. Für einen jungen Burschen, der fähig ist zu stehlen, wenn er keine Arbeit findet, ist es schmachvoll zu betteln.

- Dieser Gedanke leuchtet ihm ein. Die Nächte verbringt Nureddine, zu-sammen mit den anderen Jungen, auf dem Friedhof.

NUREDDINE:
Dies ist der einzige Ort, wo ich alleine durchs Tor hineingehen kann, wann immer ich will, bei Tag und bei Nacht, ohne irgendwen um die Erlaubnis bitten zu müssen. Sie haben recht, wozu auch eine Wache? Da gibt es gar nichts von Wert. Die Toten treiben keinen Handel, fürchten sich nicht, bereiten niemandem Sorgen und streiten sich nicht. Wenn die Welt alt ist, dann ist die ganze Erde ein Grab. In der Stadt ist kein Ort sicherer als der Friedhof. Ich glaube, die Leute achten die toten Seelen höher als die lebendigen.


IM GEFÄNGNIS

- Nureddine hat eine unangenehme Begegnung mit der Polizei. Man hat ihn zusammen mit Mohamed, dem Strassenjungen, bei einem Diebstahl erwischt. Im Gefängnis begegnet er einem Schullehrer, der ihm von dem tunesischen Dichter Abulkasim El Schabi erzählt:

"Was schreibst du?"
"Ich schreibe zwei Verse eines tunesischen Dichters, Abulkasim El Schabi."
"Was sagt dieser Dichter?"
"Hier steht, was er sagt:
Will das Volk eines Tages das Leben
Dann muß auch das Schicksal es hören
Die Nacht muß sich erhellen
Und die Ketten müssen zerspringen."
"Wundervoll!"
"Verstehst du, was er sagt?"
"Aber nein! Doch es ist wundervoll. Ich spüre, daß es wundervoll ist.Was ist denn die Bedeutung von dem, was er sagt?"
"Der Wille zum Leben, das ist die Bedeutung."
"Und was bedeutet 'Der Wille zum Leben'?"
"Es bedeutet, wenn ein Volk oder wenn Menschen versklavt sind und Freiheit wollen, dann wird Gott ihnen antworten, wie die Dämmerung auf die Nacht antwortet, und die Ketten werden zerreißen, durch die Kraft des menschlichen Willens."
"Ja, jetzt verstehe ich es. - Du hast Glück."
"Ich habe Glück?"
"Ja, du hast Glück!"
"Wieso?"
"Du kannst lesen und schreiben."
"Auch du kannst das lernen, wenn du willst."
"Sieh her: Was ist das hier?"
"Ich weiß es nicht."
"Das ist alif ."
"Und das da?"
"Ich weiß es nicht."
"Das ist der Buchstabe ba . Und das da?
"Ta,"
"Woher weißt du das?"
"Ich habe die Leute immer sagen hören: '"alif ba ta' ."
"Du hast recht."
"Mit diesen drei Buchstaben können wir ein paar Wörter bilden, zum Beispiel: ab, Vater, bab, Tür, bata , übernachten."

- Im Gefängnis läßt Nureddine sich von den Buchstaben fesseln. Als er das Gefängnis verläßt, ist er von der Schrift gefangen. Er hat die Welt der Buchstaben und der Bücher entdeckt.


IN TANGER

- Nureddine lernt in einem Café in Tanger einen Ausländer kennen, der ständig auf der Suche nach mündlich überlieferten Geschichten ist. Zu diesem Zweck hat er immer ein Tonbandgerät bei sich.

AUSLÄNDER:
Erzähl mir alles, was du willst. Ob es Wahrheit ist oder Phantasie ist gleich. Es ist dir ja auch gleichgültig. Jeder hat seine eigene Wahrheit. Du erzählst mir sowieso nicht, was du denkst, fühlst oder meinst. Ihr seid alle so. Ihr erzählt einem etwas hiervon, etwas davon, ihr erfindet ein paar Dinge und webt so ein Netz von glaubhaften Geschichten. Was für einen Sinn hat es, die Wahrheit zu erzählen? Sie ist doch in den meisten Fällen nicht sehr interessant, also macht ihr sie durch ein paar neue Elemente spannender. Außerdem wäre es auch eine Torheit, sich andern gegenüber so zu öffnen.

NUREDDINE:
Und doch wollt ihr immer nur eine Wahrheit sehen. Warum willst du sie sonst mit deinem Gerät aufzeichnen? Du willst festhalten, was sich nicht festhalten läßt. Es gibt tausend Wahrheiten und mehr. Du verstehst nichts.

AUSLÄNDER:
Ich weiß, bei euch gelten andere Regeln. Eure Sprache ist oft ein Labyrinth wie die tausend Gassen der Medina - verlockend, aber gefährlich. Ohne Führer verliert man sich in Andeutungen und falsch ver-standenen Anspielungen.

IN DER EINSAMKEIT

- Nach etlichen Erlebnissen und Begegnungen findet Nureddine bei Tanger einen Baum am Meer. Dort lebt er einige Zeit und beobachtet die Wellen. Er steht vor einer Entscheidung: soll er sein Land verlassen, wie all die anderen oder nicht? Auf der anderen Seite des Meeres liegt die andere Welt. Er erinnert sich an sein Dorf. Er fühlt sich zwischen zwei Welten. Wieder hängt er seinen Träumen nach. Er möchte Schriftsteller werden. Er denkt mehrere Tage lang darüber nach und hält den glatten Stein dabei in der Hand.

GESCHICHTENERZÄHLER:
Er kannte hundert Geschichten, aber er kannte die Geschichte nicht. Weder seine eigene, noch die seines Landes. Vielleicht hatte er eine Geschichte. Er wußte nicht. Er dachte: es ist möglich, daß ich eine habe. Diese Stadt muß auch eine haben. Etwa so wie meine eigene. Nein überhaupt nicht. Nicht so wie meine eigene. - Nun, er glaubte, daß es keine Geschichte gebe. Man hat sie einer mehr oder weniger richtigen Chronologie entsprechend fabriziert. Man hat einige Ereignisse herausgestellt. Und das hat man Geschichte genannt. Man hat das mit Sicherheit sehr gut gemacht. Doch man hat sich selbst mit den Dingen betrogen, die man herausgestellt hat.

- Am Abend des dritten Tages hört Nureddine eine Stimme.

STIMME:
Du mußt in das Menschengedränge zurück:
im Gedränge wird man glatt und hart.
Die Einsamkeit nutzt ab und verdirbt
in der Einsamkeit verkommst du.

- Da weiß Nureddine plötzlich, daß er seine Geschichten nicht aufschrei-ben muß. Wenn er sie aufschreiben würde, dann würden sie verderben und sich abnutzen, wie er selbst in der Einsamkeit verderben würde. Seine Geschichten müssen erzählt werden, damit sie leben. Jedesmal an-ders. Ob er sie mit Worten oder mit Tönen erzählt - das ist gleich.


DAS GESPRÄCH

- Zufällig ist Nureddine Zeuge eines Gesprächs zweier alter Freunde. Der eine ist ein reicher Industrieller geworden, der andere ist ein Schriftsteller. Er hört den Reichen sagen:

REICHER FREUND:
Du hast dich abgesondert und dir die beste Rolle zugeteilt: Du beobachtest uns und schreibst dann deine Schmöker. Kritisieren ist bequem, ein dummer Spruch, doch das Leben, der Kampf um das Leben, das ist nicht jedem gegeben. Du richtest nun mal, das ist das einzige,was du kannst; das ist einfach. Komm herunter in diesen Morast, und du wirst sehen, wie hart es ist. Glaubst du, das Leben begnügt sich mit Worten? Ihr flüchtet euch in ein Wortdickicht und wollt die Welt verändern, den Klassenkampf führen. Welche Illusion? Das Land braucht keine Worte und schon gar keine Poesie, es braucht Fortschritt und neue Technologien. Und der Klassenkampf ist ein importierter Begriff; er ent-spricht nicht unserer Wirklichkeit, er schadet unserer Gesellschaft. Auch die Demokratie ist eine importierte Idee, genau wie der Sozialismus. Das alles kommt aus dem Ausland. Illegal, heimlich importiert!
Die Korruption hingegen ist eine Möglichkeit, unsere Wirtschaft zu ret-ten. Es ist ein starkes System, das die natürliche Einteilung beachtet. Es ist eine Schattenökonomie. Daran ist nichts Schlechtes. Ein Wiedergewinnungssystem. Man gewöhnt sich daran.
Du bist in einem Lavastrom von Worten und in obskuren Phrasen steckengeblieben. Du hast dich der Armut verschworen, doch du bist nicht arm; du bist ein Versager! Das ist die Wahrheit. Was willst du mit Büchern bewirken, vor allem in einem Land, wo die erdrückende Mehrheit der Menschen weder lesen noch schreiben kann. Du bist wahnsinnig!

ABDELKÉBIR:
Wie schade, daß der Wahnsinn nicht erblich ist. Wirklich schade! Denn so lebt ihr ohne Poesie, ohne Großmut, ohne Zärtlichkeit. Ihr macht Geschäfte. Ihr rast über die Straßen. Leider sind die Leute heute nicht mehr närrisch. Sie sind krank. Von eurer Mittelmäßigkeit ist kein Wahn zu erwarten. Und das nennt ihr Glück.

- Der Schriftsteller steht auf und geht. Nureddine folgt ihm.


NUREDDINE UND DIE ZWEISPRACHIGKEIT

- Nureddine ist nun fest entschlossen, seine inneren Reichtümer aufzuschreiben. Er weiß aber nicht, in welcher Sprache er sie aufschreiben soll.

NUREDDINE:
Immer kommen die Geschichten zu mir, bewohnen und verändern mich. Ich muß sie aus meinem Körper herausholen, um überfüllte Fächer freizumachen und neue Geschichten aufzunehmen.

IN PARIS TRIFFT ER DEN BRUDER DES FQIHS

- In Paris lernt er einen marokkanischen Schriftsteller kennen

TAHAR:
Wenn man wie ich in französischer Sprache schreibt, reiht man sich des-halb nicht in die französische Literatur ein. Ein marokkanischer Schriftsteller schreibt keine "Romane" im Sinne der europäischen Romanliteratur. Vielmehr erzählt er eine Geschichte, in der verschiedene Formen der mündlichen Dichtung aufbewahrt sind: Erzählungen, Märchen, Balladen und Lieder.
Tagsüber schreibe ich zwar nicht, aber ich arbeite; ich beobachte Menschen und Dinge, ich lese, ich informiere mich, ich laufe durch die Straßen und sehe mir an, wie die Leute leben. Manchmal verbringe ich einen ganzen Tag damit, in Archiven der Nationalbibliothek zu forschen. Schreiben ist ein Vergnügen, das mit Arbeiten vorbereitet wird. Die Tatsache, daß ich hier lebe, weit weg von meinem Land, nährt in mir eine große Neugier für alles, was die Geschichte, die Vergangenheit und Gegenwart meiner Heimat betrifft.
Ich habe körperlich Abstand von meiner Heimat genommen. Nein, das Exil ist ein Unglück, ein Gebrechen, eine lange, endlose Nacht der Einsamkeit. Schreiben! Schreiben, um nicht verrückt zu werden, um sich an seine Wurzeln zu klammern, um das lange, schmerzliche Schweigen zum Ausdruck zu bringen, das immer wieder unser Leben durchbricht. .....
Ich sage gern: "Ich schreibe, um kein Gesicht mehr zu haben!" Ich schreibe, um eine völlige Anonymität zu erreichen, in der allein das Buch spricht. Ich weiß, das ist anmaßend. Ich strebe nach einer gewissen Demut.


Man sagt, es steht geschrieben. Im Buch der Bücher. Nein. Sie schieben dem Buch unter, was sie wollen. Übrigens stehen wirklich empörende Dinge in der Schrift. Die Frau sei dem Mann unterlegen. Das steht fest und ist rechtens! Nein, ich schreibe nichts fest. Vorher sehe ich mich erst einmal um. Schreiben wir nichts leichtsinnig fest. Auch nicht tiefsinnig. Die Gesetze. Das ist ein alter Hut. Ich mache nicht mehr mit. Zu viele Machenschaften. Ja, es ist etwas faul zwischen Mann und Frau bei den Arabern - Berbern ... Ein Mißverständnis. (32 Ged.Baum)
Der Himmel ist immer da um eure althergebrachte Roheit zu rechtfertigen!

SCHRIFTSTELLER:
Allein in der mündlichen Literatur drückt das marokkanische Volk seine ganze, ihm eigene Lebensfreude aus. Unsere Muttersprache, die Berbersprache oder das Arabisch, schützt uns zwar. Aber die französische Sprache hat uns in gewisser Weise vom Joch des Korans befreit. Endlich hatten wir einen ein Ventil. Wir konnten Verbotenes praktizieren, wir konnten profan schreiben. Welch ein Vergnügen. Aber die Freude ist allein im Erzählen.
Ich habe mich für beide Sprachen entschieden: französisch und arabisch. Ich gehöre zwei Kulturen an und verlange mein Recht auf Zweideutigkeit.
Literatur kann weder revolutionär noch konservativ sein: sie besitzt einen eigenen Rhythmus, der sozusagen unterirdisch das Leben durchdringt. Schließlich kann man ein Volk nicht mit Hilfe einer Sprache befreien, die ihm unverständlich erscheint und die über alle seine Probleme hinweg-fegt.

das folgenschwere Dilemma der Zweisprachigkeit, mit dem die marokkanischen Schriftsteller sich seit den Tagen der Unabhängigkeit ständig auseinandersetzen müssen. Noch immer herrscht die Voreingenommenheit, marokkanische Schriftsteller seien sprachliche Mischlinge. Noch immer beschuldigt man sie - heute ganz zu unrecht allerdings - das Spiel der Neokolonialisten mitzumachen. Für Khatibi ist die "Zwei-Sprache" keine Bastardisierung entweder des Arabischen oder des Französischen, sondern eine Fusion zweier Seelen, die Vereinigung eines ungleichen Paares.

ABDELKEBIR KHATIBI:
Für Khatibi ist die "Zwei-Sprache" keine Bastardisierung entweder des Arabischen oder des Französischen, sondern eine Fusion zweier Seelen, die Vereinigung eines ungleichen Paares.

Die Zwei-Sprache? Sie ist mein Glück, mein persönlicher Abgrund, aber auch meine wunderbare Fähigkeit zu vergessen. Eine Fähigkeit, die ich nicht, und das ist merkwürdig, als Mangel spüre; es ist als sei sie mein drittes Auge. Von einer Art Zersetzung verfolgt, ist es als hätte ich mich in eine gegensätzliche Richtung entwickelt, losgelöst von der Möglichkeit nur einer einzigen Sprache. Deshalb bewundere ich beim Blinden die Erhabenheit der Geste und beim Tauben, die verzweifelte und unmögliche Liebe zur Sprache.
Ein geheimer und überspannter Gedanke, der mich nicht mehr losläßt und der mir folgendes aufdrängt: jede Sprache sollte zweisprachig sein! Unsymmetrie von Körper und Sprache, von Wort und Schrift, an der Grenze des Unübersetzbaren.

Chraibi glaubt eine harmonische Mischung mehrerer Zivilisationen in sich zu vereinen: die unwandelbare, erdverbundene der Berber, die der islamischen Gemeinschaft und die rationale, industrielle westliche Zivilisation. Er schreibt dementsprechend in mehreren Sprachen.


DIE RÃœCKKEHR

NUREDDINE:
Meine Biografie ist einfach: in mir verbrüdern sich die Leidenschaften des Lichtes und des Wassers. - Die Zukunft ist die Vergangenheit.

- Er träumt in der Nacht von seiner Großmutter.

GROSSMUTTER:
Wohin du auch gehst, du bist der Sohn deiner Eltern und das Kind dieses Dorfes. Du kannst Sprachen lernen und Länder kennenlernen, doch dein Geburtsort, die Erde, die dich aufnahm, das Dach, das dich schützte, die Menschen, die dich liebten, die Hände, die dich nahmen, um dich an die Brust zu legen, der Wind, der dir im Sommer etwas Kühle brachte, der Baum, der dir Schatten spendete, sie werden dich niemals vergessen, wo du auch bist. Dies ist deine Heimat, dies ist ihr Antlitz. Glaube nicht, daß du sie loswirst, weil du studieren wirst. Deine Wurzeln sind immer noch da, sie warten auf dich, sie werden am Tag des Jüngsten Gerichts für dich Zeugnis ablegen.

Sie kommen mit Koffern voll Illusionen an, und nachher wird ihnen klar, daß es schwer ist, ohne seine Wurzeln zu leben.

SPRECHER:
Die abgründige Tiefe der Einsamkeit, in der sich die ihrer Heimaterde entrissenen Männer befinden, entsteht erst durch das Verschweigen, das jeden einhüllt und eine Verständigung unmöglich macht.


ILLEGAL IN PARIS

ERZÄHLER:
Ich war stark und bei guter Gesundheit, als ich in Frankreich ankam. Ich kam als Mann, einer mit starkem Leben zwischen den Beinen. Mein Glied war stark und groß. Es richtete sich auf beim geringsten Befehl, beim kleinsten Kontakt. Ich schlief mit jeder. Keine wies mich ab. Mit meiner Frau machte ich vier Kinder. Sie sind stark. Mein Samen war stark. Ich aß viel. Oh! Ich war glücklich. Ich dachte nichteinmal an ein solches Problem. Aber jetzt - was ist aus mir geworden? Eine armselige Sache. Ich bin kein Mann mehr. Ich werde wie eine Frau sein, welche Schande! Welcher Niedergang! Ich bin kein Mann mehr, aber ich war einer. Ich habe meine Kinder. Ich habe keine Kraft mehr, kein Leben, nichts, das ist der Tod. Ich kann mich nicht mehr meiner Frau, meinen Freunden, meinem Vater und meiner Mutter zeigen. Oh! Mein Vater würde mich umbringen, wenn er davon wüßte; und meine Mutter würde sich vor Scham bei lebendigem Leib begraben. Ihr Sohn ist kein Mann mehr, er ist ein Lappen, ein Weibchen, unfähig, aufrecht zu sein, unfä-hig, ihr Ehre zu machen. Wohin ist meine Kraft verschwunden? Wo sind meine Muskeln geblieben? In mir ist keine Hitze mehr, ich bin kalt. Es ist gefroren, das ist der Tod, der mich zwischen den Beinen packt. Ich bin schon gestorben und rede noch. All das verdiene ich! Nie konnte ich ruhig bleiben. Die Frauen! Die Frauen! Meine Ersparnisse gingen bei den Huren drauf, und hier ist es ja teuer. Ich gab nicht acht! Bis zu jenem schwarzen Tag, da mich diese Frau mit ihrer Krankheit ansteckte. Ich kann mich noch so pflegen, er wird nicht steif. Was kann ich tun, um diese Krankheit aus meinen Adern herauszuholen? Es ist ein Gift. Man muß mich operieren, muß das Blut reinigen. Das ist es: Das Blut ist von dieser Hure verschmutzt.
Was für ein Problem! Alles in mir hat sich verändert; mein Charakter, mein Temperament, mein Leben sind leer geworden. Nichts mehr. Kein Verlangen, keine Lust. Ich denke pausenlos daran. Wären da nicht meine Kinder, die ich ernähren muß - ich ginge nicht mehr zu Arbeit. Das ist hart! Ich habe keinen Appetit mehr. Früher aß ich viel. Jetzt interessieren mich mein Körper, mein Leben nicht mehr. Nachts rede ich zu mir selber, spreche mit meinem toten Glied. Wenn das so weitergeht, werde ich verrückt.
Ich arbeite mit gesenktem Kopf. Wenn meine Kollegen Spaß ma-chen, werde ich rot, die Scham, die Schande. Machen Sie einen chir-urgischen Eingriff, machen Sie alles! Ich gebe Ihnen alles, was ich habe. Zu mir heim-kehren? Kommt nicht in Frage. Stell dir nur vor - ich, der starke, potente Mann, Vater von vier Kindern, von jedermann geachtet, gefürchtet von mei-ner Frau und meiner Familie, ich soll heimkehren, um zum Gespött zu wer-den, um vor Scham zu sterben! Nein, kommt nicht in Frage. Solange ich nicht geheilt bin, bleibe ich hier, ja hier, im Exil, in diesem kalten und rassistischen Land. Eher das als die Schande! Vielleicht würde meine Frau nichts sagen, aber ich selber könnte es nicht ertragen, nicht mehr zu sein wie früher. Von fünfmal pro Tag zu-rück auf nichts! Niemals. Also, tu etwas. Gib mir meine Kraft zurück.


GESCHICHTENERZÄHLER:
Die Berber sind keine Araber und sie mögen die Araber nicht. Ihre Kultur ist sicherlich weniger raffiniert und weniger institutionell als die arabische, aber es ist dafür keine Macht- und Herrschaftskultur, sie ist das nie gewesen. Die Berber haben ihre Sprache trotz der Besetzungen durch die Phönizier, die Punier, die Römer, die Araber und dann durch die Kolonisation der Franzosen und Spanier, völlig intakt halten können. Der Klang ihrer Sprache ist archaisch und mysteriös, ihr fehlt jedwedes System von Schriftzeichen: eine rein orale Sprache, die aber reich ist an mündlicher Überlieferung unglaublicher Legenden und Geschichten, die die Berber sich selbst und den Fremden sehr gerne erzählen. ...

Das Eindringen des Kolonialismus im Maghreb brachte Tod und Verwundung mit sich. Menschen wurden nicht nur ihrer Identität, sondern auch ihres Bodens beraubt. Was ihnen blieb, war ihr Körper. Nackt. Er wurde der Rentabilität zur Verfügung gestellt.
Heute bestimmen die Länder des Maghreb über sich selbst - nicht ganz zwar, denn die menschliche Versteppung dieser Gebiete geht weiter. Nach wie vor entzieht das große Kapital diesen Ländern ihr kostbarstes Blut: die Menschen.

Wenn es auch kalt ist, wenn die Arbeit auch hart ist, da oben ist die Zivilisation!" - Die Zivilisation! dieses Wort klingt noch heute in meinem Kopf wie ein magisches Wort, das Türen öffnet, das den Horizont noch sehr weit hinausschiebt, das ein Leben verwandelt und ihm die Kraft gibt, besser zu werden. ... Aber wie tritt man durch diese Tür, wenn man weder lesen noch schreiben kann?

SPRECHER:
In Paris stößt das Berbermädchen wieder auf die Gewalt - in Form des alltäg-lichen Rassismus in der Schule und auf den Straßen - , aber auch auf die Liebe. Sie erlebt eine zweite Geburt, einen Neubeginn, der zugleich eine lang-same, unumkehrbare Entfremdung markiert.

JUNGE ERZÄHLERIN:SPRECHER:
Hin- und hergerissen zwischen zwei Kulturen, zwischen moslemischer Tradition und westlichem Individualismus, flüchtet sie in ihre Bilderwelt, er-findet ihr verlorenes Leben im Berberdorf neu, umgeben von den Fantomen ihrer Phantasie. Ihre Großmutter spricht zu ihr.

ALTE ERZÄHLERIN:
Kleines, du bist groß geworden und hast dich verändert.

Das Leben ist kein Roman, es ist mehr und besser als ein Roman; es ist unvorhersehbarer, verrückter und weniger zärtlich als eine in einem Buch erzählte Geschichte. Ein Roman verrät das Leben, denn jeder beliebige kann ihn aufschlagen und vom letzten Kapitel an lesen. Im Leben gibt es für jeden ein letztes Kapitel, man weiß, wie eine Geschichte endet, man kennt den allerletzten Ausgang, doch niemand kann sagen, wann, wo und unter welchen Umständen sich das Ende abspielen wird. Auch wenn für den Muslim alles im Himmel geschrieben steht.


Quelle: radio brintrup


Augen zu und durch
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