Original geschrieben von: Josi
Liebe Sahna,

die grundsätzliche Frage ist doch immer wieder die: kann man die Unwägbarkeiten der Liebe (jeder Liebe) eingrenzen auf nationale Besonderheiten und gibt es nicht doch ein Rezept wie man vor Schmerzen, Unheil und Liebeskummer gefeit wäre? Alle Fragen, die Du hier stellst, müsstest Du Dir in dieser Form auch bei einem deutschen Partner stellen, sie haben nichts mit seinem Nationalcharakter zu tun: warum spricht er schlecht über seine Ex? Kann es sein, daß nur sie schuld hatte etc. etc. Diesen Gewissensfragen sehen sich sämtliche Patchworkfamilien gegenüber und glaube mir, es kann genauso verwirrend sein, wenn er nur gut oder überhaupt nie über seine Ex spricht: man hat einen Menschen mit Vergangenheit getroffen und nun platzt diese Vergangenheit einem ständig dazwischen - entweder nur im Kopf (hat er zu seiner Ex auch Mausi gesagt?) oder real als Telefonterror, schlechtem Gewissen und irrationalem Verhalten, sobald einer aus der alten Familie glaubt durchdrehen zu müssen.

Seitdem man nicht mehr zusammenbleibt "bis daß der Tod euch scheidet", seitdem existiert dieses Problem und ich habe es selten irgendwo so gelöst gesehen, daß ich gerne mit den Betroffenen getauscht hätte: meistens ist es anstrengend und erfordert von allen Beteiligten grosse Aufmerksamkeit, Rücksicht und Vorsicht im Umgang mit dem jeweils anderen (seinen Wunden, Verletzungen, Traumatas).

Nun zum Nationalcharakter, bzw. zum Problem der Ungleichgewichtigkeit (zur Attraktivitäts-Bilanz zählt nicht nur Aussehen, gesellschaftliche Stellung, Geld und Gut, sondern auch charakterliche Schätze oder Verlustzuweisungen, die man sich genau ansehen sollte, wenn man es mit sich und dem anderen ernst meint):

Marokkaner sind anerkanntermassen die weltbesten Psychologen, Beobachter und Rethoriker und sie verfügen darüberhinaus über einen langen Atem, Geduld und Ausdauer: wer sie über den Tisch ziehen will, muß früh aufstehen und er sollte keine schadhafte Stelle in Seelenkostüm haben - denn wenn er dort eine hat, dann wird ein Marokkaner sie erkennen, sich seinen Reim darauf machen und Dir ein Heilmittel dafür anbieten, dem Du nicht widerstehen kannst. Diese Fähigkeit lässt nach, wenn sie ins Ausland gehen: jeweils im Verhältnis zu den Jahren, die sie von der Heimat trennen - in Deutschland muß man kein besonderer Psychologe sein, um zu reüssieren und die Kunst der Rethorik ist hier nur noch schlichtes Mobbing, eine Kunstfertigkeit, die einem Marokkaner verschlossen ist, weil eine hierarchische Gesellschaft auf Mobbing gut verzichten kann, die Ungerechtigkeit der "niedrigen" oder "hohen" Geburt erledigt das von ganz allein.

Zurück zu Deinem Freund:

ich würde jedem Marokkaner glauben, wenn er behauptet, er würde gerne zurück nach Marokko. Wenn Du mehr über den Zustand wissen willst, der sich Exil nennt, dann gibt es dazu Literatur (wenn Literatur nicht über Liebe handelt, dann handelt sie vom Exil) und ich kann Dir nur wärmstens empfehlen, Dich ganz gezielt damit zu beschäftigen: denn wenn Du Dich für jemanden entscheidest, der im Exil lebt, dann wirst Du zwangsläufig damit konfrontiert werden, daß er ständig zurückwill, daß er weiß, daß er nicht mehr zurückkann und Du wirst mit jemandem zusammenleben müssen, der sich ängstigt (zu Tode ängstigt) seine Identität zu verlieren oder der sie schon verloren hat und nun von der Brandung mal hierin und mal dorthin geworfen wird: der einzige Weg raus ist das Exil anzunehmen und dasselbe gilt auch für Dich. Es reicht nicht jemandem zu lieben, der seine Heimat verloren hat - man muß ihn auch verstehen und man muß lernen, daß es Bereiche gibt, die man niemals verstehen wird - es sei denn, man lebte selbst im Exil oder hätte seine Heimat auch schonmal verloren (kann ich sehr gut nachfühlen). Denn eines ist klar:

vertrieben zu werden ist einfacher als gegangen zu sein und bleiben zu müssen ist einfacher als sich zu entscheiden, bleiben zu wollen. Als Frau hat man da keinen leichten Stand, weil jede Frau "einen Ernährer und Vater ihrer Kinder sucht": die Ergebnisse zeigen sich oft erst in der nächsten und übernächsten Generation, die zu meiner grossen Verblüffung (auch hier im Forum nachzulesen) oft von einer solchen Wut gegen das Heimatland ihrer Väter geprägt sind, daß man glauben könnte, nicht die Eltern hätten das Heimatland verlassen, sondern das Heimatland die Eltern.

Ich hoffe, es macht Dich nicht traurig und darüberhinaus wünsche ich Dir einen klaren Kopf bei der Betrachtung Deiner eigenen (emotionalen wie sonstigen) Mitgift: denn nur auf sie hast Du Einfluß, auf ihn wenig bis gar keine.



Grüsse

Josi


Off topic:
Chapeau!
Das druck ich mir jetzt aus und leg es zum Stammbuch, neben die Heiratsurkunde bzw. gegen die nächste "Zweifelattacke", wenn ich in all meiner gelegentlichen Genervtheit, Ungeduld, Verständnislosigkeit und sicherlich auch massig Egozentrik mal wieder dringend einen Gegenimpuls gebrauchen könnte.
Danke!

Lauchcremesuppe
(ExilMarokkanerGattin)

Last edited by Lauchcremesuppe; 13/08/08 08:19 AM.

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