@essarghini,

lass uns bitte zunächst festhalten, dass die allermeisten marokkanischen meinungsträger in deutschland und in diesem forum sich sozio-regional mehrheitlich aus dem rif und aus studentischen gruppen rekrutieren, die jene "ernüchterungserfahrungen" in deutschland gemacht haben, die sie an eine rückkehr zu ihren traditionellen und religiösen wurzeln verleiten.

das erklärt in logischer schlußfolgerung, warum beide gruppen zu den fundamenten der traditionen und religion zurückfinden mögen und aufgrund ihrer gesellschaftlichen bedingungen als migrantengruppen, die sich in deutschland abgrenzen sollen und wollen, der vorhandenen materiellen und geistigen möglichkeiten und des herrschenden drucks, sich methodisch und geistig mit dem eigenen glauben auseinanderzusetzen, einen wichtigen unterschied zu den übrigen marokkanern in marokko aufweisen.

das entspricht unter anderem auch der tatsache, warum marokkanische studenten - wie du schön beschreibst - nach frauen, alkohol, feiern usw. hier und in europa zunächst suchen. wäre die marokkanische gesellschaft so wie du/ihr sie dem eigenen wunsch nach beschreib(s)t, würden die meisten marokkanischen studenten schon von marokko aus mit dem gebetsteppich unter dem arm nach deutschland fliegen und du würdest in dem anderen thread die eine entsprechende phase der "begeisterung und der ausschweifungen"
aus deiner erzählung wegstreichen müssen.

für den rest lass uns bitte unsere aussagen nicht aus ihren zusammenhängen reißen. so behaupe ich nicht etwa, dass marokko eine atheistische gesellschaft, die weder orientalisch noch islamisch sei. ich mag nicht rechtfertigend auf einzelen punkte eigehen, die ich so nicht geäußert habe.

seit wann sind die dörfer im rif und die einen im süden für marokko reprenstativ für das land? kennst du den rif und den süden gleichermaßen? und wie verhält es sich im atlas und in vielen anderen gegenden? und denkst du, dass all die städte, die nunmal politische, wirtschaftliche und kutlutrelle zentren des landes sind, und es von links nach rechts und von oben nach unten besiedeln, gegenüber den dörfern im süden mit so einer leichten hand zu nehmen sind? etwas geistiges fine tuning ist glaube ich hier schon gefragt.

bald leben mehr als die hälfte aller marokkaner in städten und die tendenz geht richtung urbaniserung der dörfer auch. naturgemäß sind vorgaben für gesellschaftliche entwicklungen in städten und großen urbanen zentren zu beobachten. sie geben den puls auch für den rest der gesellschaft. wenn ich in rabat beobachte, dass die cafes, buslinien und weitere service-unternehmen nach und nach mädchen als kellnerinnen, fahrkarten-kontolleurinnen, emfangshostessen, usw. einstellen, dann gehe ich davon aus, dass es eine frage der zeit, bis dies die kleinstädte und sogar auch dörfer machen. und nicht umgekehrt. das ist ein gesellschaftlicher mechanismus, der universell ansetzt und es wäre grundfalsch, ihn anders herum zu erwarten.

in den städten ist eine art "islamisierung" zu beobachten, die sich u.a. darin ausdrückt, dass mehr kopftuch tragende frauen im heiratsalter auf den strassen und besonders in schulhöfen zu sichten sind. für eine islamistische brille ist es grund zur beruhigung und zur freude, für den rationalen blick ist es das zeichen einer pragmatischen reaktion auf eine überwältigenende und anhaltende modernisierung marokkos, sowie ein für den heiratsmarkt wichtiger label für die "gute familienherkunft". dieser trend war in ägypten vor marokko zu beobachten; dort hatte man sich auch oft wegen des "heuchlerischen" verhalten jener frauen gewundert, die zwar ein kopftuch tragen, aber dennoch sich schminken, rauchen und alles anders wie moderne westliche frauen tun. man hat nicht versucht zu begreifen, sonder zu (ver-) urteilen.

auch die siege der pjd in marokko und der islamisten in der türkei sind nicht unbedingt als eine zusätzliche islamisierung der gesellschaft, als vielmehr eine reaktion auf die anhaltende gesamtgesellschaftliche krise, die unfähigkeit der politik lösungen zu finden und orientierungen zu geben, sowie im falle der türkei als eine antwort auf das ablehnende und als arrogant empfunden verhalten der europäischen länder zu bewerten. gerade die türkei kommt zufällig aus der schwersten krise der letzten jahrzehnte heraus und erfährt zugleich eine abfuhr von der europäischen union. es ist zu erwarten, dass menschen sich nach einfachen antworten und fundamentalen richtungen in diesen zeiten sehnen.

in diesem kontext lassen sich deine ausnahmsweise etwas diffenzierten angaben bzgl. der analphabeten-rate, der sozialen ungleichheiten und der kolonialen geschichte eher einbetten und ich hätte gewünscht, dass du sie zunächst neutral entwicklet, ohne daraus irgendwelche theologischen lehren und urteile abzuleiten, auch wenn man über details durchaus streiten mag.

wenn man die islamische brille ablegt, sieht man die ignoranz und die daraus zu interpretierende politische immaturität der völker, die verflechtung der religion mit den bräuchen und der tradition, die ausnutzung der religion in der symbolischen politik und für protestwahlen, die sozialen ungleichheiten usw., so dass die marge des religiös "reinen", "gründlichen" und "ehrlichen" immer dünner wird.

schließlich, dass man 14 jahrhunderte arabischer und islamischer geschichte nicht so wegwischen kann und darf, versuche ich den mazighisten oben auf meine art klar zu machen. dir müßte ich in erinnerung aber bringen, dass die marokkanische gesellschaft bei ihrer arabisierung und islamisierung, ihre mazighische identiät nicht wie ein kleid abgelegt hat, um ein neues tragen, sondern sie weitgehend mit der neuen und mit weiteren einflüssen verflochten und vermischt hat, so dass etwas eigenartiges und für die gegend spezifisches entstanden ist, was man als marokkanisch oder maurisch oder maghrebinisch oder was auch immer nennen mag. das mag die abgrenzung des maghreb zu dem maschreq begründen, eine differenzierung, die die islamische brille nicht sehen kann und will, und die der deutschen tendenz zur normung und verieinfachung entspricht.

der hier in deutschland und in diesem forum herrschende islamische blick unterscheidet zwischen gut und schlecht und schaut nicht weiter und tiefer. der rationale blick versucht - zunächst fern von jeglichem urteil - zu erklären, zu informieren und zu anlysieren, in dem er einen blick hinter die kulissen wagt.

dieser kampf zwischen aufklärung und religon hat vielen gelehrten im christentum und im islam das leben gekostet (und bevor mir einer von ibn khladoun oder ibn rochd erzählt tut er gut daran, ihre biografien sich neu zu lesen).

ich hoffe, dass die neue generation von moslems und islamisten die religiöse brille auf seite legt und sich mit der thematik ihrer gesellschaft mit voll geöffneten augen auseinandersetzt und sie zunächst wahrzunehmen versucht, wie sie ist und tickt und nicht wie sie sein soll.

jm