@finiqiya/shakir,

mir geht es nicht darum, den islam und den islamischen blickpunkt aussen vor zu lassen, sondern in differenzierter art zunächst die wirklichkeit wertneutral zu beschreiben, um anschließend das eigene werturteil zu äußern. beides wird in den beiträgen hier vermischt. mit einfachen worten, es sollte erst beschrieben werden, was ist, wo der islamische blickpunkt sich als ungenügend und teilweise irreführend erweist, und dann, was sein soll, wobei der islamische blickpunkt hier ein in erster linie persönliches werturteil darstellt.

kehren wir kurzweilig zu unserem beispiel oben zurück.

mitte bis ende der 80er jahre gab es mit der wirtschaftlichen krise eine quasi leise revolution in marokko, nachdem die familien und frauen die arbeit der frau nicht nur als ein schickes zeichen von gleichberechtigung, sondern als einen existentiellen zwang zu empfinden anfingen. in den städten vor allem, aber auch in vielen dörfern genügte das einfache einkommen des mannes nicht, um die miete zu zahlen, die erziehung der kinder zu finanzieren, einige lebensprojekte zu verwirklichen (wohnungskauf z.b.) und eventuell weitere mitglieder der verwandschaft auszuhalten.

in diesem kontext raste der wert des zuhause hockenden mädels gen null auf dem "heiratsmarkt" und der der gebildeten arbeitenden frau stieg rasch auf. eine der konsequenzen war, dass gymnasien, unis und ausbildungsstätten sich von frauen füllten. auch mädchen, die den zug in der schule verpasst hatten, blieben nicht mehr wie früher zuhause, sondern trachteten, diesen verlust durch ausbildungen in handwerklichen metiers zu kompensieren. andere, die zunächst von ihrer familie selbst von der schule zwecks heirat fern gehalten wurden, wurden im nachhinein teilweise sogar in ferne gegenden gesandt, damit sie einen beruf lernen.

wäre marokko ein reiches öl-land, in dem die einkommen der männer für den familienunterhalt ausreichen würden, hätte sich dieser prozess wahrscheinlich stark verzögert.

wenn frauen arbeiten gehen, sich bilden und ausbilden, bestreiten sie den gemeinsamen unterhalt und werden für das leben nicht nur der eigenen kleinfamilie, sondern auch für das einiger verwandten finanziell mitverantwortlich und in einigen fällen gar alleinverantwortlich. sie werden nicht nur unabhängig, sondern von ihnen hängen weitere menschen ab. viele unter ihnen erlangen mit ihrer arbeit gesellschaftlichen und politischen einfluß, so dass sie für ihr nahes umfeld bei der jobsuche, in juristischen konflikten usw. usf. wirksam behilflich werden. diese gesellschaftliche autorität erlaubt frauen, für sich selbst entscheidungen zu treffen und nach und nach, ihre familien nicht mehr zu konsultieren, um zu entscheiden, was sie an keildungsstücken tragen und ob sie auto fahren würden. das ist die tendenz in marokko zur zeit.

hierüber informiert der koran nicht. auch die hadiths und die 4 madhahibs können keine auskunft über diese und viele andere mechanismen geben. sie können auch keine zukunftseinschätzung von den gesellschaftlich tief- und weitreichenden konsequenzen dessen liefern. sie geben lediglich einen rahmen, leitplanken vor, innerhalb derer die gesellschaft sich bewegt (solang die frau nicht um 4 uhr betrunken und im mini nach hause kommt ist es ok). dort kann man sich jedoch wunderbar darüber informieren, dass der islam für die bildung der frau, ihre gleichberechtigung etc. sei.

ein rein islamischer blickpunkt kann bei einer "diagnostischen" bertachtung daher verwirrung stiften, in dem er einen schleier über diese und viele andere mechanismen und dynamismen wirft. in unserem beispiel handelt es sich um zwei entgegengesetzte richtungen, die beide unter dem islam und dem, was man davon in marokko versteht und misversteht, gerechtfertigt und gesellschaftlich eingepackt werden. wenn es opportun erscheint meinen die familien, dass es der religion und den traditionen entspricht, oder zumindest nicht widerspricht, wenn frauen zuhause hockten, und wenn es notwendig wird, werden frauen nach draussen geschickt und der islam mit fortschrittlichsten fasseten interpretiert.

als schlußbemerkung, der islamische blickpunkt ist unter deutschen und deutschland-marokkanern sehr verbreitet und wird nicht von allen marokkanern in marokko und im übrigen ausland geteilt. das hat auch seine gründe. man tut aber der sache unrecht, wenn man versucht, seine gesellschaft so zu darstellen, wie man sie - von hier aus gesehen - haben will und nicht wie sie einfach und zuhause ist.

jm