(4. DER PLATZ - ASPEKTE/ GEDANKENSPLITTER ZU SEINER BESCHREIBUNG)

Salam Aziz!

Mit einem weiteren konzeptuellen Ansatz zur Veränderung von Jemaa el-Fna möchte ich Dich heute nicht erschrecken. Doch der ‘nächste Schrecken’ steht schon an!

Ich - der zivilisationsmüde Deutsch-Europäer - habe mich mit den Ausdrücken ‘Marrakesch’ und ‘Jemaa el-Fna’ beschäftigt.
Sieh’, was dabei herausgekommen ist, und hilf’mir bitte, die Gedankengänge zu präzisieren.


‘Marrakesch’ ist ein Ausdruck der berberischen Sprache.
‘Marrakesch’ heisst „geh’ schnell!"

Beziehe ich das „geh’ schnell" auf die Zeit des Abu Bakr Ibn Omar und seines ihm nachfolgenden Cousins Yusuf Ibn Taschfine in der Ära der Almoraviden, dann wird damit eindeutig der Fremde, der damals Reisende, der damals neugierig an fremder Kultur Interessierte, angesprochen.

Die Ansprache ist jedoch keine einladend-freundliche!
Im Gegenteil!!
Dem Fremden wird mit den Worten „geh’ schnell" direkt, unmissverständlich-eindeutig empfohlen, den unwirtlichen Ort, den sich Abu Bakr Ibn Omar als Gründungs’zelle’ für die Hauptstadt seines neuen Staates ausgesucht hatte, wegen drohender räuberischer Überfälle und Anfeindungen der dort Heimisch-Sässigen und Berber zu verlassen!
Die ‘Empfehlung’ an die ‘Fremden’ ist eher ein Befehl: schnell und direkt ‘abgeschossen’ gleicht der Befehl einem Pfeil (Canetti), der seinen Abdruck nachhaltig im Getroffenen hinterlässt, diesen immer nachhaltig verletzt und im schlimmsten Falle ‘in das Jenseits’ verbannt..
Die Verletzlichkeit ‘gerichteten’ Befehlen gegenüber habe ich in ihrer ausgeprägtesten Form bei den Berbern erlebt! Aber ‘unregierbar’ sind sie deswegen noch lange nicht! Nur: der Befehl ist die nicht geeignete Form!

Beziehe ich den Ausdruck „Marrakesch: geh’ schnell" auf unsere heutige Zeit, dann entsteht für mich - trotz der immer noch vorhandenen Direktheit des Befehlsinhaltes - eine undefinierte Doppeldeutigkeit! wiederum so eine Art unerträglicher ‘Schwebezustand’! Der Befehl ist ungerichteter geworden. Es scheint so, als ob der Befehl in zweierlei Richtungen gehen könnte.

Sind es wieder die Fremden, die Reisenden, die an fremder Kultur neugierig Interessierten, die - entweder als High-Tech-Devisenbringer im globalen Investmentkarussel ‘begrüsst’, oder als vereinzelt auftretende ‘Häusle-Bauer’ misstrauisch beäugt, oder als khaki-behoste, fett-gecremte touristische ‘Kulturvoyeurs-Masse’ in Ferienghettos zeitweilig geduldet und nach Kräften ‘geschröpft’ oder in klimatisierten Touristenbussen herumgekarrt werden - sind es diese, die Marrakesch schnell wieder verlassen sollen???

Marokko doch schon auf dem Wege zum Einwanderungsland???
Wie attraktiv muss es für Fremde werden, wenn sie sich denn niederlassen und heimisch fühlen wollen?

Oder werden etwa die in Marrakesch Heimisch-Sässigen, die Mrakschi, angesprochen?
Die Menschen, die dort ihr einzigartiges kurzes Leben leben, Arme und Begüterte, Alphabeten und Analphabeten, Gebildete und Ungebildete, mit Arbeitsplatz oder ohne Arbeit, mit Familien und Kindern, verwurzelt-verharrend entweder im islamischen Glauben oder bereits in tiefem Zweifel an Allah und seinem Propheten Mohammed???
Sind es diese - oder ein Grossteil von ihnen - die weggehen wollen oder sollen? Oder die man ihrem Schicksal überlässt?

Marokko auf dem Wege zum Auswanderungsland???
Landflucht, Exodus und Exil waren noch nie befriedigende Lösungen für eine Movida!
Wie attraktiv aber muss Marokko werden, damit die Heimisch-Sässigen bleiben?


‘Jemaa el-Fna’ ist ein Ausdruck der arabischen Sprache.
Er bedeutet soviel wie „Platz des Todes".
Es entsteht eine Assoziation zum ‘Platz des himmlischen Friedens’ in Peking.
In ‘unserem’ Sprachgebrauch werden die Orte der Toten als ‘Friedhöfe’ bezeichnet.

Mit der eher oberflächlichen Erklärung zum Ursprung des Namens ‘Jemaa el-Fna’, Hinrichtungsstätte für Verbrecher und Oppositionelle gewesen zu sein, gebe ich mich nicht zufrieden.

Ist es vielmehr nicht so, dass schon die Kontinuität, mit der dieser Name die Zeiten überdauert hat, unmittelbar zum ersten auf unser aller Ende - den Tod - verweist ?
und, zum zweiten, mittelbar, aber schrecklicher noch auf das ‘Jüngste Gericht’ anspielt?

Unter den vier verschiedenen Arten, mit denen sich gläubige Muslime versammeln, ist die ‘Versammlung beim Jüngsten Gericht’ die letzte, entscheidende, die für jeden einzelnen wertvollste.
In dieser grössten aller Versammlungen von Menschen „auf einem Fleck", deren Menge (aus der Gesamtheit aller jemals existenten Menschen rekrutiert) sich nun (nach dem Ruf der Posaune) nicht mehr vergrössern kann, wird vom ‘Richter’ geurteilt, verurteilt, geteilt: im Ergebnis diese göttlichen ‘Willkür’aktes entsteht die eine Gruppe der ‘Gläubigen’, und es entsteht die andere der ‘Ungläubigen’.
Das Ziel jedes einzelnen Muslim soll es nun sein, in die Gruppe der ‘Gläubigen’ beim ‘Jüngsten Gericht’ zu gelangen: Inscha Allah!
Und Mohammed verlagert in seinem Koran folgerichtig das Konzept Allahs von der restriktiv-dualen Unterteilung der Menschen beim ‘Jüngsten Gericht’ auf die Erde: ‘Wie im Himmel, so auf Erden’. Und im Koran liest sich das so: „ ..... tötet die Ungläubigen, wo ihr sie findet; ergreift sie, bedrängt sie und setzt euch in jeden Hinterhalt gegen sie".

Kann es - und das ist die spannende Frage - nun sein, dass diese gläubige ‘Gewissheit’ im Bewusstsein und im Unterbewusstsein der Muslime so fest verankert war und heute noch so festgeschrieben ist, dass weder am Namen, an der Bedeutung, noch an der Grundstruktur des ‘Raumes’ Jemaa el-Fna ge- und verändert wurde?
Und dass Diktatoren, die diesen Mechanismus kannten oder ahnten, sich gehütet haben, auch nur kleinste Veränderungen zu initiieren?

Jemaa el-Fna: ein Dogma?
Ein islamischer Bewusstseinsraum mit definitv-starrer Bedeutung?
Keiner Movida zugänglich?
Jemaa el-Fna: ein irdischer Ort des ‘Jüngsten Gerichtes’?
Jemaa el-Fna: eine Droge? - mit haarfeiner Nadel über Jahrhunderte in das Hirn der Menschen injiziiert - sodass das ‘bewusste Sein’ sich wie ein ‘mind-expander’ verhalten hat und die Wahrnehmung des ‘Aussenraumes’ zu verzerren begann?

Kann es nun sein, dass die Menschen in der Realität des Platzraumes wiederum unterbewusst reagiert haben auf die ihnen ‘von oben’ auferlegten Zwänge, und diesen Raum zur ‘Bühne’ für die Darstellung ihres Lebens, ihres Arbeitens gemacht haben?
Um uns - den Fremden - das Kaleidoskop unserer Träume und Wünsche zu bereichern? Gewiss nicht! Oder doch???
Um Allah zu gefallen?
Gewiss ja! Oder nicht???
Oder um Allah - wenigstens für einen Moment ihres irdischen Daseins - zu zeigen, dass sie sich sehr wohl ausserhalb des ‘Bewusstseinsraumes’ bewegen konnten und können? In Beziehungen, die DIREKT, ÖFFENTLICH und UNKONTROLLIERT zueinander und zu anderen Menschen waren?
Aziz, ich nähere mich meiner zentralen These, die mir helfen soll, die ‘Seele’ des Platzes und einer möglichen marokkanischen Movida zu erkunden.

Das für heute!
Ich verbleibe mit freundlichen Grüssen und in der Hoffnung auf baldige Antwort:
Peter.

P.S.
Als Postscriptum, als ‘Nachtisch’, Aziz, noch das, was wir alle so lieben: die kleinen Stories am Rande!!!
Wir, d.h. meine Gespielin Christiane und ich, waren heute ‘in und um Dakhla’; zu Fuss und mit dem Jeep, und ausnahmsweise in grosser Eintracht (von dem Eklat im ‘Royal Club du Maroc’ hatte ich Dir ja sicher berichtet?). Zum Mittagessen (in Dakhla) gab es Couscous (auf ausdrücklichen Wunsch von der ‘mäkeligen’ Christiane aber ohne Lammfleisch!) und Pastilla. Von der Pastilla war ich geradezu begeistert! Wenn ich bloss das Rezept hätte!
Dann sind wir am späten Nachmittag zurück zur Yacht und haben gelesen. Ich las in dem Buch von Jared Diamond „Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften", und Christiane las in dem Buch von Mo Hayder „Der Vogelmann", das sie unwahrscheinlich spannend aber auch ‘höchst eklig und pervers’ findet. Naja, sie kennt die Mo noch von früher! Dann machte Christiane Abendbrot - unser marokkanischer Koch hatte Ausgang - und ich machte ‘gute Miene zum bösen Spiel’!! Spaghetti - was sonst???
Als ich den Exkurs an Dich, meinen ‘Freund im Geiste’, dann auf dem laptop geschrieben hatte, kuckte Christiane mir über die Schulter und las den Text sorgfältig durch.
Wahrscheinlich hält sie mich sowieso schon für ‘hochgradig bekloppt’. Oder sie ist schlauer, als ich gedacht habe!
Jedenfalls sagte sie zu mir „Wie hat Dir denn das ‘jüngste Gericht’ geschmeckt?"
„Gut" konnte ich nur noch stottern!
Dann kam ich wieder ein wenig in’s Grübeln!

P.P.S.
Eben bekomme ich einen Zettel gereicht:
‘Noch 13 Tage bis zum Geburtstag von Sidi Mohammed’!