Liebe Balqis,

wenn das mit dem "Verstehen" nicht manchmal so schwierig wäre. Schau mal, wie sehr wir uns bemühen und scheinbar ständig aneinander vorbeireden.

Du hast dein Verständnis vom Islam, das du, wie du uns geschildert hast, durch eigenes Lesen und Nachforschen im Koran erlangt hast und das - wenn wir über das Thema Kopftuch sprechen - sich zufällig mit der tradierten Gelehrtenmeinung und der eines überwiegenden Teils der Muslime deckt. Das habe ich nirgendwo bestritten. Ich habe auch geschrieben, ich weiß nicht mehr wo, dass die Mehrheit der Muslime heute vermutlich das Tragen des Kopftuchs für die religiöse Verpflichtung der Muslimin hält. Ich sage nicht, dass eure Meinung falsch ist, das steht mir überhaupt nicht zu!
Ich sage lediglich, dass es auch andere Meinungen dazu gab und gibt, dass es auch gläubige Musliminnen gibt, die durch eigenes Nachforschen in den Quellen zu dem Schluss gelangt sind, dass die Kopfbedeckung für die Muslimin nicht unter allen Umständen und zu jeder Zeit Verpflichtung ist, sondern dass es sich möglicherweise um eine zeit- und situationsgebundene Vorschrift handelt. Diese Frauen sagen das, teilen aber dennoch die grundlegenden Glaubensüberzeugungen des Islam. Emel Abidin-Algan sagt nicht: Ich habe den Islam verlassen - sie könnte das in einem freien Land wie Deutschland ja tun. Ich finde es unfair, dass du ihr unterschiebst, sie würde den Islam schlecht machen. Das tut sie nicht. Es ist etwas anderes, wenn du sagst: Ich finde ihre Meinung bezüglich diesen oder jenen Themas falsch - als wenn du sagst: Die rechnet ja eh mit dem Islam ab, weil sie eine schlimme Vergangenheit hatte.


Mir geht es weder darum, den hijab abzuschaffen noch darum, Frauen davon zu überzeugen, dass sie ihn nicht tragen sollen, weil sie dann freier wären. Jede soll das für sich entscheiden. Idealerweise stelle ich mir vor, dass Musliminnen ihre Kopfbedeckung immer und überall tragen können, wo sie es wollen. Allerdings - und dazu sehe ich die Muslime selbst verpflichtet - muss die Freiwilligkeit gewährleistet sein, unter der Musliminnen, gerade die Mädchen, zum Kopftuch greifen. Wo Kopftuch-Tragen zum Zwang wird, ist dies eine Freiheitsbeschneidung, die ich für nicht hinnehmbar halte. Der Schutz von Kindern steht für mich über dem Schutz der religiösen Gemeinschaft.

Wir haben die hijab-Thematik ja nur exemplarisch herausgegriffen (ein bisschen absurd ist es schon, da weder du noch ich ein Kopftuch tagen), es ging ja eigentlich zwischen uns immer mehr um die Frage: Ist der Koran zeitlos? Ja, er ist es nach muslimischer Auffassung. Die Frage ist nur: Was ist das Zeitlose daran? Sind es die allgemeine Ethik und die grundlegenden Glaubensüberzeugungen (wie der Glaube an den einen Gott, das Paradies, die Engel, die Hölle) oder sind es alle einzelnen im Koran enthaltenen Bestimmungen?
Der Koran ist Gottes Wort, aber wir - ob Muslime oder Nichtmuslime - sind nur Menschen. Wir müssen den Koran interpretieren, anders geht es gar nicht! Und das haben die Muslime seit jeher gemacht. Die menschliche Sprache, das menschliche Verständnis wandelt sich durch den Wandel der Gesellschaft in der man lebt. Insofern ist nicht der Inhalt des Koran wandelbar, wohl aber das Verständnis davon.

Gruß