Ahmad Rami, ein Amazigh aus dem Atlas,
erzählt aus seinem leben.

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Das Leben der Dorfbewohner war äusserst stark von der Religion geprägt. Der Islam war alles, was den Menschen zur Verfügung stand, um die grossen Fragen des Lebens zu beantworten. Unterliess es jemand, regelmässig zu beten, so wusste gleich das ganze Dorf davon. Ein solches Versäumnis gilt dort bis zum heutigen Tage als Schande.

Die "säkularisierte" weltliche Macht hatte seit der Ankunft der Franzosen ihren Sitz in Tafraoute, denn dort residierte der Hauptmann, der die Kolonialmacht vertrat. Von meinem Dorf waren es 17 Kilometer nach Tafraoute; dorthin führte durch das Tal ein Pfad, aber eine Strasse gab es noch nicht. Die Luftlinie betrug wohl nicht mehr als fünf Kilometer. Jeden Mittwoch wurde in Tafraoute ein Souk, also ein Markt, abgehalten. Diesen suchten wir allerdings nur selten auf, weil es in Tahala, das nur halb so weit weg lag, einen Sonntagsmarkt gab.

Solche Märkte spielten auch eine bedeutsame soziale Rolle. Man traf sich nicht nur, um Geschäfte abzuschliessen. An diesen Tagen trug man seine besten Kleider, da man ja Menschen aus anderen Gegenden traf. Man plauderte über "Politik", vermittelte Neuigkeiten und erzählte Gerüchte weiter. Auf einem Markt wurde mein Vater 1956 zum öShejk" (Stammes-häuptling) gewählt. Bei uns Berbern ging die Häuptlingswürde keinesfalls automatisch vom Vater auf den Sohn über. Ein neuer Shejk wurde gewählt. Mein Vater hatte gegen die Franzosen gekämpft, und in Casablanca hatte er Interesse für die Politik geschöpft und sich 1953 der Istiqlal, also der Selbständigkeits-partei, angeschlossen. Deshalb verehrten ihn die Menschen im Dorf. Bei der Wahl auf dem Marktentfielen fast alle Stimmen auf ihn, und er wurde Stammeshäuptling (öAmghar" in der Berbersprache). Die Dorfbewohner nannten mich nun "Ben Shejk", Sohn des Scheichs. Auf diesem Wege wurde mein Vater nun auch zum Vertreter der zentralen Macht des Stammes, nachdem Marokko seine Unabhängigkeit erlangt hatte. 17 Wie alle Berberdörfer war auch das unsere von altersher von einer öDjamƒa" gelenkt worden. Unter einer solchen versteht man eine Gruppe von zwölf durch die Dorfbewohner gewählten Männern, welche eine Art Rat bildeten. Sie trafen sich so oft sie konnten und erörterten die Lage im Dorf. Formale Sitzungen gab es nicht; sie fanden sich einfach zusammen und setzten sich irgendwo hin. Grundsätzlich konnte jeder beliebige Mann an diesen Treffen teil-nehmen, und die meisten, die dies taten, waren altehrwürdige Männer.

Das Alter spielte eine wichtige Rolle, denn "die älteren sind weiser als die jüngeren", und man schenkte ihnen grössere Aufmerksamkeit. Da das Dorf so abgelegen war, diskutierte man meist über praktische Fragen, beispielsweise darüber, ob man gemeinsam eine Brücke bauen sollte oder wann man mit der Ernte beginnen wollte. Der Boden, der einem Bauern gehörte, bildete nicht unbedingt ein zusammenhängendes Ganzes; man konnte da ein Stückchen Land besitzen und dort ein Stückchen, und es galt den richtigen Zeitpunkt für Aussaat und Ernte beizeiten festzulegen.

Mein Vater hatte an dem langen Krieg gegen die Franzosen teilgenommen, welche die ländlichen Zonen Marokkos unter ihre Herrschaft bringen wollten. Dieser Krieg zog sich über 25 Jahre dahin. Erst dann glückte es den Franzosen, die Landgebiete zu unterjochen. Mein Vater war bei der letzten Schlacht bei Ait Abdallah im Jahre 1934 dabei. Damals besiegten uns die Franzosen; anschliessend beuten sie in Tafraoute einen Militärstützpunkt.

Die Enttäuschung unserer Kämpfer war natürlich grenzenlos. Unser ganzer Kampf unterstand islamischen Prinzipien. Er war eine Art öJihad", worunter man die islamische Pflicht zum Kampf gegen die Ungerechtigkeit versteht. "Jihad" heisst Kampf. Im Westen missversteht man den Begriff im allgemeinen. Man meint, es bedeute "heiliger Krieg", doch dieser Erklärung ist zu einfach. Das Wort leitet sich vom Verbum "jahada" (ösich anstrengenö) ab. Jihad ist eine islamische Pflicht. Es ist der Kampf gegen das Böse und das Unrecht, nicht, wie man im Westen wähnt, ein "heiliger Krieg", sondern ein Krieg für die Gerechtigkeit, deren Schutz einem Moslem als religiöse Pflicht obliegt. 18 Das Gerechtigkeitsprinzip ist der Grundpfeiler des Islam. Es verlangt von jedem einzelnen, dass er sich anstrengt. Man unterscheidet zwischen dem "grossen" und dem "kleinen" Jihad. Der grosse Jihad ist der Kampf gegen das Böse in uns selbst. Der kleine Jihad ist der Kampf gegen das Böse ausserhalb von uns, das Böse in der Gesellschaft oder der Welt.

Als die Franzosen unser Land kolonisierten, wurde gegen sie der kleine Jihad ausgerufen. Aber das Böse, das Unrecht triumphierte über uns. Für alle unsere Menschen war dies eine namenlose Enttäuschung, eine Katastrophe ärgster Art. Doch das Volk gab nicht auf, sondern setzte seinen Widerstandskampf fort. Der Islam verlieht ihm Kraft und Stärke wie später den afghanischen Freiheitskämpfern gegen die Sowjets oder heute noch den Palästinensern.

Der Widerstand gegen die Kolonisierung war für uns eine Herzenssache. Der Kolonialismus, dem wir gegenüberstanden, war nur ein Teil des kolonialistischen Systems, das so gut wie die ganze islamische Welt heimsuchte und noch heute in verschiedenen Formen weiterlebt: indirekt beispielsweise in Marokko, direkt in Palästina und im Libanon.

Im Jahre 1936 leitete ein Fqih, also ein religiöser Führer, im Atlas- gebirge mit 1000 Mann einen Angriff gegen eine französische Garnison. Gott wird uns beistehen, sagte er, wir brauchen keine Waffen. Die Franzosen schossen die Angreifer natürlich über den Haufen oder nahmen sie gefangen. Da begriff das Volk, dass man den Eroberern und Kolonialisten nicht mit blossen Händen entgegentreten kann.

Man besass damals lediglich alte Waffen: Messer, Schwerter, eine Handvoll uralter Flinten. Der Gegner verfügte über ein hochmodernes Waffenarsenal. Die westliche Technologie hatte über unsere Rückständigkeit gesiegt, nicht über unseren Glauben oder unsere Ideale. Die ganze Überlegenheit Israels und der westlichen Welt fusst auf dieser technologischen Überlegenheit über die islamische Welt sowie die dritte Welt ganz allgemein.


Vor der Franzosenzeit übten die 12 Männer, aus denen sich die Djamƒa zusammensetzte, die gesamte Rechtssprechung im Dorf aus. Im Islam gab es für jede Situation Präzedenzfälle und Regeln. Wenn die Männer einen Entschluss gefasst hatten, ging ihr Bescheid von Mund zu Mund durchs Dorf. Nichts wurde niedergeschrieben. Man konnte da von einer Art direkten Demokratie freier Männer sprechen, welche kennzeichnend für die Berbergesellschaften war.

Solange die Dörfer isoliert waren und keine Zentralmacht existierte, ging das gut. Nachdem die Franzosen Fuss gefasst hatten, durfte sich der Dorfrat, die Djamƒa, nur noch mit rein praktischen Alltagsfragen befassen, während die tatsächliche Macht bei den Franzosen lag, die dann auch alle wichtigen juristischen Fragen selbst entschieden. Dies rief Unwillen bei den Berbern hervor, welche diese Einmischung als Widerspruch zu den islamischen Gesetzen auffassten. Nun entschieden die Kolonialisten über zivil- und familienrechtliche Probleme, die für die Dorfbewohner von allergrösster Wichtigkeit waren und deren Hintergrund die Franzosen nicht kannten.

Die Menschen im Dorf wandten sich auch dagegen, dass die Franzosen Berber und Araber gegeneinander auszuspielen suchten. In Marokko besteht wohl ein Gegensatz zwischen Land- und Stadtbevölkerung, doch keinesfalls zwischen Berbern und Arabern. Für den Durch- schnittsmarokkaner sind "Araber" und "Moslem" Synonyme. Dass man Araber sein kann, ohne zugleich Moslem zu sein, ist für ihn unverständlich. Man darf den Koran nicht übersetzen, und man darf seine Gebete nicht in der Berbersprache verrichten. Das Arabische ist die Sprache des Koran und folglich heilig.

Die Besatzerbehörden arbeitete mit Verrätern zusammen, die schalten und walten konnten, wie es ihnen beliebte, ohne dass sie dafür zur Rechenschaft gezogen wurden. Ungerechtigkeit und Korruption wurden von neuen Gesetzen, vom Staat und der Polizei gedeckt. Vor der Kolonisierung herrschte Ordnung, die dann durch eine Art organisierte Anarchie abgelöst wurde. Gewisse Leute konnten morden, sich der Korruption hingeben, ihre Macht schamlos missbrauchen und sich aufführen, wie sie wollten, ohne dafür eine Bestrafung zu riskieren. Sie hatten das "Gesetz" und die Staatsmacht auf ihrer Seite.

Früher waren wir alle ungefähr gleich arm, doch nun konnten einige durch Korruption oder durch Handel in den Städten zu Reichtum gelangen, weshalb die soziale Kluft zwischen arm und reich wuchs. Als Beispiel kann man einen Neureichen namens Bouhdar anführen, der zu Beginn der fünfziger Jahre in Tahala lebte. Er häufte durch Spekulation Unsummen von Geld an, hatte seine Finger in allen möglichen Bestechungsaffären und schenkte dem französischen Militär- kommandanten ein schickes Auto. Als Gegenleistung bekam er die Erlaubnis, unter dem Schutz der französischen Militärmacht zu tun, wonach ihm der Sinn stand. Er war also zum Kollaborateur geworden.

Zum Zeitpunkt, wo ich dieses Buch schreibe, ist dieser Mann noch am Leben. Er treibt es immer noch wie früher, nur verrichtet er seine Dienste nun für die neokolonialistischen Behörden des "neuen", formal selbständigen Marokko. Ehe die Franzosen abzogen, traten sie die Macht an die Verräterclique ab, die das Land heutzutage regiert. Solchen Verrätern wie dem erwähnten Boudhar galt unser Hass. Nachdem die Franzosen den Krieg gewonnen hatten, bekamen wir ihre Beamten nicht allzu oft zu Gesicht.

In unserer Gegend lebte nur ein einziger französischer Offizier, der Militärkommandant der Besatzerarmee in Tafraoute, der zugleich Gouverneur und Führer eines marokkanischen Söldnerbataillons war. Doch nach dem verlorenen fünfundzwangzigjährigen Krieg war das Volk müde geworden. Pessimismus, Verzagtheit und Verzweiflung nahmen überhand, und die Verräter machten sich diese Stimmung zunutze. Der von den Kolonialisten protegierte Sultan wurde vom Volk als Verräter betrachtet. 21 Die Franzosen wussten natürlich sehr wohl, dass unsere Bergzonen isoliert und selbständig gewesen waren und mit dem korrupten Rest des Landes nicht allzu viel zu tun hatten. Diese Situation wollten sie nun für ihre eigenen Interessen ausnutzen, indem sie die Berber an der französischen kulturellen Invasion teilhaben liessen. Die Franzosen entschieden, "richtige" französische Schulen zu errichten und riefen für alle Kinder die allgemeine Schulpflicht aus.

Dahinter stand die Absicht, den Berberkindern Französisch beizubringen. Auf diese Art sollte ein Riss zwischen französisch- sprechenden Berbern auf dem Land und arabischsprechenden Arabern in der Stadt entstehen, aber auch eine Kluft zwischen den Berbern und ihren mit der französischen Sprache aufwachsenden Kindern. Während meiner Jugendzeit gab es bei uns im Dorf ausser dem Fqih niemanden, der Arabisch konnte.

Als die Franzosen irgendwann anno 1951 oder 1952 in Tafraoute eine Schule bauten, erregte dies heillosen Schrecken. In Windeseile verbreitete sich das Gerücht, die Franzosen wollten die Kinder stehlen. Damit gemeint war natürlich, dass sie sie ihren Eltern kulturell entfremden wollten, doch manche erzählten, sie wollten die Kinder den Eltern buchstäblich wegnehmen.

Eines Nachts machte sich meine Mutter deshalb heimlich mit mir auf den Weg. Ich erinnere mich noch daran, dass sie mich auf ihre Schultern setzte und dass ihr Nackenhaar mich an der Innenseite meiner Schenkel kitzelte (die Frauen pflegten sich den Nacken zu rasieren).

Im Schutze der Dunkelheit brachte meine Mutter mich in ein Dorf, das acht Kilometer von unserem Heimatort entfernt war. Von dort fuhr ein Bus nach Casablanca. Sie schickte mich mit einem Freund meines Vaters auf den Weg, denn am nächsten Tag sollte der Unterricht in der französischen Schule anfangen.

Ich war keinesfalls das einzige Kind, das auf diese Weise aus dem Dorf geschmuggelt wurde. In vielen Nachbardörfern geschah Úhnliches, da die Leute dort ihre Kinder auch nicht auf die Franzosenschule schicken wollten. 22 So verschlug es mich das erste Mal nach Casablanca. Statt die Schule zu besuchen, musste ich als kleines Kind bei meinem Vater in einem Geschäft arbeiten. Das war im Jahre 1952. Ich zählte damals fünf oder sechs Jahre.


was würden diese unsere Leute,
unsere Imazighen Vorfahren
von solch Imazighen halten die Jahrzehnte später eine francophone Metamorphose vollzogen haben und uns imazighen neue, fremde Ideologien auftischen wollen ?


hätten sie es überhaupt glauben können wen man ihnen erzählt hätte, das es eine zeit geben wird in naher zukunft, in der es imazighen geben wird, wie diese francophon metamorphosierten mazighisten, die dabei noch glauben sie sprechen für alle Imazighen ?


Diese hiesigen Forums Mazeghisten sollten sich schähmen, falls sie das noch können.