Hallo Abid,

Ich habe inzwischen den Artikel von Nikola Tietze gelesen und kann über dich nur den Kopf schütteln. Da ich dir in Zeiten des Ramadan mal nicht unterstellen will, dass du lügst, muss ich wirklich annehmen, dass du den Artikel nicht verstanden hast.

In dem Artikel geht es um den Prozess der Gemeinschaftsbildung und Identitätskonstruktion (obwohl Tietze, glaube ich, nicht mit dem Begriff Identität operiert) kabylischer Immigranten in Frankreich, den die Autorin anhand der Zeitschrift Actualités et Cultures Berbères und Interviews untersucht hat.

Sie konstatiert, dass das Tamazight, bzw. Kabylisch, innerhalb der von ihr untersuchten Gruppe als gesprochene (Mutter-)Sprache an Bedeutung verliert zugunsten des Französischen (übrigens auf lange Sicht ja ein typisches Diaspora-Phänomen), dass die Sprache jedoch indem man ÜBER sie spricht, zum Träger der Vergemeinschaftung wird. Damit wird Sprache "objektiviert".

 Antwort auf:
Nicht die sprachliche Praxis, die in Algerien mit konkreten Diskriminierungserfahrungen verbunden ist.... Sondern ein gesellschaftspolitisches Ideal und die Forderung nach seiner Durchsetzung stehen bei der Konstruktion der Berbergemeinschaft im Vordergrund.
(S.39)

Die Autorin wertet mit dieser Formulierung von der Sprache als Objekt keinesfalls, was du uns suggerieren willst, ganz im Gegenteil ist es eine objektive Feststellung, aus der man ein gewisses Bedauern herauslesen könnte, aus der man auch schließen könnte, dass schnellstmöglich etwas dagegen unternommen werden sollte (indem man Tamazight beispielsweise nicht nur in Marokko, sondern auch in Frankreich und Deutschland als muttersprachlichen Unterricht einführt - aber das ist eine andere Diskussion).
Und das schöne Zitat aus der Zeitschrift Actualités et Cultures Berbères möchte ich auch gleich noch anschließen:
 Antwort auf:
Hinter der scheinbar trivialen Forderung nach Berberunterricht verbirgt sich - sowohl in Algerien als auch in Frankreich [als auch in Marokko!, E.F.] die Frage nach der Fähigkeit der gesamten Gesellschaft, ein Mosaik von Kulturen leben zu lassen.
(No.21, November 1996, S.3, hier S. 40)
Damit ist doch schon alles gesagt, lieber @Abid, denn ich habe meine begründeten Zweifel, dass du und deinesgleichen an einem solchen Mosaik der marokkanischen Gesellschaft interessiert sind, wenn du immer und immer wieder deine eigenen Identitätsbezüge als die einzig wahren und für Marokko zulässigen postulierst, weil sie ja angeblich (oder tatsächlich) die der Mehrheit in Marokko darstellen.
Sowohl durch die Kolonialgeschichte als auch durch die "staatlich forcierte Arabisierungspolitik" seien Tamazight-Muttersprachler zwangsläufig auf eine Zwei- oder Mehrsprachigkeit angewiesen, wenn sie nicht vom gesellschaftlichen und ökonomischen Leben ausgeschlossen bleiben wollen. Ich zitiere mal die Fußnote 9, die ich besonders interessant finde:
 Antwort auf:
Einen solchen sprachlich bedingten sozialen, ökonomischen und damit letztlich auch politischen Ausschluß aus dem nationalstattlichen Raum erleben zum Beispiel Frauen ohne Grundschulbildung in einigen Berberregionen Marokkos.
(S.40)
Was war noch mal der Grund, warum du, @Abid, gegen die Einführung des Tamazight-Unterrichts in Marokko bist? Ach richtig: Weil sich das irgendwelche frankophonen Eliten ausgedacht haben, die... - warum eigentlich? - genau, nichts anderes im Sinn haben als den Islam in Marokko zu zerstören.
Vielleicht haben es sich aber auch Leute ausgedacht, die auf lange Sicht etwas daran ändern wollen, dass große Teile der Bevölkerung von der gesellschaftlichen Partizipation ausgeschlossen bleiben und die nicht wollen, dass eine Sprache ausstirbt, weil sie jahrzehntelang missachtet und abgewertet wurde und mit ihr die Menschen, die diese Sprache sprechen.
Die Passagen des Artikels über die Erinnerungsfiguren überspringe ich jetzt mal, weil sie mich gerade nicht so sehr interessieren. Natürlich hat Geschichtsschreibung immer etwas mit der Konstruktion eines Weltbildes zu tun, das müsste man eigentlich inzwischen schon in der Schule lernen. Es geht ja hier auch um eine "Gegen-Erinnerung", also ein Moment des Widerstandes zur offiziellen Geschichtsschreibung.
Übrigens kann man solche Erinnerungsfiguren ja ganz genauso in der Konstruktion des arabisch-islamischen Weltbildes in Marokko und anderswo finden. Das ist nichts der Gruppe der Mazighisten eigenes.

Interessant für uns hier wird es dann besonders wieder, wo das Kabylische (oder eben das Tamazight) als "Bollwerk gegen den Islamismus" aufgebaut wird, sei es von den kabylischen Immigranten selbst, sei es von französischen Kulturpolitikern. Noch mal ein Zitat aus der besagten Zeitschrift:
 Antwort auf:
In Frankreich, einem Land, in dem die Moderne manchmal gleichbedeutend mit Verlust, Verstrickung und Vervielfältigung der Identitätsbezüge ist, gilt es, insbesondere jungen Leuten ein Mittel [...] anzubieten, damit sie gegenüber den [...] Botschaften simplifizierender und totalitärer Ideologien taub bleiben.
(hier S.40)
Ich könnte dich jetzt fragen, @Abid, was du islamistischen "Bauernfängern" entgegenzusetzen hast, die zweifelsohne genau in diese Identitätslücke bei muslimischen Jugendlichen schlagen und zwar leider haufenweise - aber das ist sinnlos, weil du ja leugnest, dass es so etwas wie Islamisten überhaupt gibt.
Ich sehe aber auch das Problem, das die Autorin Nikola Tietze anspricht, wenn sie sagt:
 Antwort auf:
Der Kabyle, der sich mit seiner Sprachgemeinschaft identifiziert, ist in der Gemeinschaftsvorstellung ein säkularer, emanzipierter und toleranter Mensch, während die arabophonen Einwanderer aus Nordafrika in den Traditionen des Islams verfangen und damit eben auch weniger und nicht in natürlicher Weise in die Französische Republik und ihre Werte integriert sind.
(S.49)
Gerade da, wo Islam mit Islamismus gleichgesetzt wird, bzw. Muslimisch-sein mit Islamistisch, sehe ich auch dieses Problem der "Spaltung" oder ich würde es eher Entsolidarisierung nennen. Ich meine, die masirische Kulturbewegung sollte sich davor hüten zum Lieblingskind der französischen oder europäischen Politiker zu werden und sich gegen den Islam als Feindbild ausspielen zu lassen. In der Tat sehe ich bei manchen postings auch hier im Forum solche Tendenzen.

Jetzt noch zwei schöne Zitate, aufgrund derer du diesen Artikel hier besser nicht hineingepostet hättest, weil er deinen sonstigen Behauptungen gerade zuwider läuft:

 Antwort auf:
Jede Forderung nach staatlicher Anerkennung einer Berbersprache ist in Nordafrika mit der Bedeutung der Religion für die nationale Integration konfrontiert; Die häufig autoritäre Arabisierungspolitik gegenüber der Bevölkerung ist ein Ergebnis des islamisierten nationalen Selbstverständnisses, getragen von einer eindeutig ideologischen Entscheidungdenn Arabisch ist die Sprache des Islams. Die für die Einbindung der Staaten in die arabische und damit die islamische Welt.
(S.36)


Und:

 Antwort auf:
Es lassen sich ähnliche Tendenzen in den Gemeinschaftsbildern der Muslime in der Immigration erkennen, obwohl sich die Berberbewegung immer wieder von den muslimischen Gemeinschaften abgrenzt. Aber gerade in der Abgrenzung und gegenseitigen Konkurrenz um Sinnbestimmung entwickeln die Glaubensgemeinschaften gleiche Mechanismen: Die ideologische Akzentuierung ermöglicht, aus dem Gemeinschaftsglauben ein Ordnungsprinzip für die sozialen Beziehungen zu machen, sich ein strukturierendes Weltbild zu geben und die eigene Gruppe in imaginärer Weise zu vereinheitlichen.
(S.52)

Soll ich jetzt ganz viele Zitate von dir heraussuchen. \:D Ich würde sagen, lieber Abid: Das war ein echtes Eigentor! ;\)


Schöne Grüße,
Elke


PS: Ich danke dir nochmals sehr für den Hinweis auf den Artikel, den ich für meine derzeitige Arbeit gut gebrauchen kann.