Liebe Anna, ich habe ein paar marokkanische Erzählungen ausgegraben. Hier ist eine davon, ich hoffe, sie ist in etwa so, wie Du es Dir vorgestellt hast!


Der Blinde mit der Mandoline

Der Blinde, von dem hier die Rede ist, spielte ausgezeichnet Mandoline. Die Musik war seine Freude und sein Lebensunterhalt. Was hätte er ohne sein Instrument gemacht! In seinem kleinen Zimmer gab er Teeabende für die Jugendlichen. Er hatte zahlreiche Melodien im Kopf und improvisierte immer neue. Während er spielte, tanzten die jungen Leute. Wenn sie müde getanzt waren, tranken sie Tee, den er zubereitet hatte. Einige Blätter Tee, das ist nicht kostspielig, und das Wasser gibt es umsonst. Dabei wurde geplaudert und gesungen. Und wenn seine Gäste dann spät am Abend aufbrachen, ließen diejenigen die es sich leisten konnten, ein paar Münzen auf einem kleinen kupfernen Tablett. Sie genügten dem Blinden, um Brot und Gewürze zu kaufen und etwas Kohle für seinen Ofen.
Eines Tages hörten die jungen Leute- wie alle Jugendlichen das Abenteuer liebten- von einem Schloß, in dem es spukt. Übermütig planten sie, den Blinden dorthin zu bringen, denn er würde ja nicht erkennen, wohin man ihn führte, und ihn mit den Schloßgespenstern alleine zu lassen. Sie malten sich diese Begegnung aus und belustigten sich an den grausamen Vorstellungen.
Dann bereiteten sie Lebensmittel und Kuchen vor und gingen zusammen zu dem blinden Musikanten: «Väterchen», sagten sie zu ihm, «man hat uns zu einem großen Fest eingeladen. Willst Du nicht mit uns kommen und deine Mandoline spielen? Es gibt dort sicher ein gutes Essen. Danach machst du deinen Tee und stellst dein Tablett auf. Wir garantieren dir eine hohe Einnahme.»
Der Blinde war einverstanden. Sie brachten ihn zu dem Schloß (Gott allein weiß, wohin Blinde überall gebracht werden). Die jungen Leute hatten Freunde und Nachbarn eingeladen, um die Zahl der Festteilnehmer zu vergrößern und sich mit ihnen an dem Streich zu ergötzen, den sie dem behinderten Musikanten spielten.
Der Blinde spielte arglos und so gut er konnte seine Mandoline. Um 23:50 Uhr verließen alle auf Zehenspitzen den Saal, um den Gespenstern- die bekanntlich um Mitternacht erscheinen- nicht zu begegnen. Als der Blinde nichts mehr hörte, stellte er fest, daß sie ihn allein gelassen hatten. Er wickelte sich in seinen weiten Burnus ein, legte seine Mandoline auf den Boden, den Kopf auf das Instrument und schlief ein.
Um 12 Uhr Mitternacht betrat eine Gruppe weißverschleierter Frauen den Saal, in dem der Blinde schlief. Die sieben Schwestern weckten ihn und sagten: «Du bist Musiker! Spiel uns etwas, denn wir möchten tanzen!»
Er fühlte sich eingehüllt in Duftwogen lieblichen Parfüms, das von den Frauen ausging, und er griff beschwingt in die Saiten seiner Mandoline. Wie ein Begleitinstrument vernahm er das rhythmische Geräusch, das ihre Arm-und Fesselringe beim Tanzen verursachten und das genau mit dem Rhythmus der Musik übereinstimmte.
«Du hast gut gespielt», lobten ihn die Frauen, «so nimm eine Belohnung von uns an!»
Der Blinde spürte, wie sie seine Stirn berührten, und er hörte, daß jede der Tänzerinnen etwas auf sein kupfernes Tablett legte. So fuhr er fort, hingebungsvoll auf seiner Mandoline zu spielen.
Beim Morgengrauen verabschiedeten sich die sieben Schwestern von ihm und sagten: «Möge es dir gut ergehen! Du hast uns herrlich zum Tanz aufgespielt!»
Der Blinde betastete erwartungsvoll sein kupfernes Tablett und stellte fest, daß es nur Orangenschalen waren, die darauf lagen. Da lächelte er nachsichtig und legte sich wieder schlafen. Als er aber am Morgen sein Tablett unter den Arm nehmen wollte, war es überaus schwer, denn die Orangenschalen hatten sich in Goldstücke verwandelt. Er machte daraus ein solides Päckchen, und mit Hilfe seines Stockes kehrte er in seine Wohnung zurück.
Am Abend kamen die jungen Taugenichtse neugierig zu ihm und erkundigten sich: «Wie hast du diese Nacht verbracht, Väterchen?»
«Die Nacht war einmalig!» erwiderte er. «Schmuckbehangene Frauen haben mich besucht und die ganze Nacht zur Musik meiner Mandoline getanzt. Und jetzt ist mein Glück gemacht! Ich habe euch von nun an nicht mehr nötig.»

(aus: Contes mystérieux d’Afrique du Nord. Paris 1973)



An manchen Stellen, finde ich, trägt die Geschichte verdächtig europäische Züge. Zufall? Nachgeholfen? Gibt es in Marokko/ Nordafrika ähnliche Gespenstermärchen wie bei uns?
Was meint Ihr?


Wie ein Dieb schlich der Verstand herein und saß zwischen den Liebenden, erpicht darauf, ihnen Ratschläge zu geben. Aber sie waren unwillig. So verbeugte sich der Verstand und ging seiner Wege.
* Djelaleddin Rumi *