Gespräche zwischen Sokrates zu Glaukon
Teil 2 - Das Liniengleichnis




Als wenn du also eine in zwei ungleiche Abschnitte geteilte Linie hättest, teile wiederum jeden der beiden Abschnitten, sowohl den des sichtbaren als auch des erkennbaren Bereiches, wieder nach demselben Verhältnis, und du wirst zunächst nach Deutlichkeit und Undeutlichkeit zueinander an dem einen Teilabschnitte Bilder haben. Ich meine aber mit Bildern erstlich die Schatten, dann Spiegelungen im Wasser und in allem, was dicht, glatt und reflektierend ist, und in allem derartigen, wenn du es begreifst?

Ja, ich begreife.

Unter dem anderen Unterabschnitt, dem dieser gleicht, denke dir sodann die uns umgebenden Tiere, alle Pflanzen und alles Gefertigte.

Ich tue es, sagte er.

Wärst du denn nun auch bereit, fuhr ich fort, einzuräumen, dass er auch nach Wahrheit und Unwahrheit zweigeteilt ist, dass sich nämlich das Meinbare zu dem Erkennbaren so verhält wie die Kopie zum Original?

O ja, sagte er, sehr gerne.

So prüfe denn auch, wie das Erkennbare zu unterteilen ist!

Wie?

Indem die Seele gezwungen wird, im einen Abschnitt sich des damals Nachgeahmten als Bilder zu bedienen und von Voraussetzungen aus nicht zum Prinzip weiterzugehen, sondern zu einem vorläufigen Ende, im anderen Abschnitt aber dem zum voraussetzungslosen Prinzip von einer Voraussetzung auszugehen und ohne diesbezügliche Bilder nur mit Hilfe der Ideen selbst durch sie ihren methodischen Weg zu nehmen.

Was du damit meinst, habe ich nicht recht verstanden.

Also noch einmal, erwiderte ich; du wirst es nach folgener Vorklärung leichter verstehen: Du weißt ja wohl, dass die, die sich mit Geometrie und Arithmetik und dergleichen abgeben, den Begriff von Gerade und Ungerade, von Figuren und den drei Arten von Winkeln und sonst dergleichen bei jedem Beweisverfahren voraussetzen, als hätten sie über diese Begriffe ein Wissen, während sie diese doch nur als Voraussetzungen aufstellen und glauben, weder sich noch anderen davon Rechenschaft schuldig zu sein, als seien sie allen klar. Von diesen Annahmen gehen sie aus, führen dann das Weitere durch und kommen so endlich folgerrichtig zu dem Ziel, auf dessen Erforschung sie ausgegangen waren.

Ja, sagte er, das weiß ich allerdings.

Nicht wahr, auch dass sie sich der sichtbaren Dinge bedienen und ihretwegen Untersuchungen anstellen, während sie doch nicht über diese nachdenken, sondern über das, dem diese gleichen? Nur dem Viereck selbst und seiner Diagonale selst gilt ihre Untersuchung, nicht denen, die sie aufzeichnen, und so in allem sonst. Selbst das, was sie bilden und zeichnen, wovon es auch Schatten und Bilder im Wasser gibt, auch das gebrauchen sie weiter nur als Bild und suchen dadurch zur Schau dessen zu gelangen, (511a) was man nur mit dem Verstand schauen kann.

Richtig bemerkt, sagte er.

Das also meinte ich vorhin mit 'denkbarem Bereich' und dass die Seele bei seiner Erforschung gezwungen sei, von Voraussetzungen auszugehen, indem sie nicht zum Prinzip zurückgeht, weil sie über ihre Voraussetzungen nicht hinausgehen kann, sondern dass sie dabei die Bilder verwende, die von Dingen darunter abgebildet werden und von ihnen im Vergleich zu jenen als deutlich bewertet und geschätzt werden.

Ich begreife, sagte er, dass du die unter der Geometrie und den damit verwandten Disziplinen begriffene Wissenschaft meinst.

So begreife also auch, dass ich unter dem anderen Abschnitt des Denkbaren das verstehe, was die Vernunft durch die Macht der Dialektik erfasst, wobei sie ihre Voraussetzungen nicht als Prinzipien ausgibt, sondern als wirkliche Voraussetzungen, gleichsam nur als Eintritts- und Anlaufpunkte, damit sie zu dem voraussetzungslosen Prinzip des Ganzen gelangt, und wenn sie es erfasst hat, an alles sich haltend, was mit ihm in Zusammenhang steht, zum Ende herabsteige, ohne das sinnlich Wahrnehmbare dabei zu verwenden, sondern nur die Ideen selbst durch und für sich und mit Ideen auch abschließe.

Ganz verstehe ich das nicht, sagte er, denn du scheinst da eine gewaltige Aufgabe vorzutragen. Aber soviel verstehe ich doch, du willst feststellen, dass die Sicht der auf das Seiende und Gedachte gerichtete Wissenschaft der Dialektik sicherer und deutlicher ist als die der sogenannten Einzelwissenschaften, für die die Voraussetzungen zugleich Prinzip sind und deren Vertreter ihren Gegenstand zwar mit dem Verstand betrachten müssen, aber nicht mit den Sinnen; weil sie aber nicht vom Prinzip her forschen, sondern von Voraussetzungen aus, scheinen sie dir dabei keine Vernunft zu haben, obwohl auch dies vom Prinzip her einsehbar wäre. Verstandes- aber, und nicht Vernunftätigkeit scheinst du mir das Verfahren der Geometrie und der ihr verwandten Wissenschaften zu nennen, da du sie für etwas Mittleres hältst zwischen bloßer Meinung und Vernunft.

Das hast du durchaus richtig aufgefasst, sprach ich. Und so lass denn jenen vier Abschnitten auch vier Seelenzustände entsprechen, Vernunfttätigkeit dem obersten, Verstandestätigkeit dem zweiten, dem dritten aber weise den Glauben und dem vierten die bildliche Erkenntnis zu, und ordne sie nach dem Verhältnis, dass du ihnen denjenigen Grad von Deutlichkeit beimisst, der dem Anteil entspricht, den ihre Objekte an der Wahrheit haben.

Ich verstehe, sagte er, und räume es ein und ordne sie wie du sagst.











When the rich wage war
is the poor who die.
LP