Apropos Erziehung und Backzwang (zwei Threads mit einer Klappe, deshalb leider etwas lang):

Hallo Najib,

Eigentlich wollte ich zur Einstimmung zu Sarrazins schwarzem Pädogogik-Unfall ja ein paar Szenen aus dem "Weißen Band" hierher verlinken. So etwas von Angst, Verkniffen- und Verschlagenheit, von Onanieren, die Hände-weg-binden, rituellem Prügeln, bigottem Sadismus, protestantisch (natürlich): gibt es dort alles auch.

Aber dann fiel mir diese Szene hier in die Hände, die auch nicht von schlechten Eltern ist und gleich mehrfach genutzt werden kann (auch in der Paarrubrik). Das ist das Deutschland, das ich meine: das Video müsste in voller Länge Pflichtlektüre für jeden Marokkaner werden, der sich mit dem Gedanken trägt eine Deutsche zu heiraten: er könnte jederzeit eines dieser Endprodukte einer schwarzen Pädagogik erwischt haben*.



Btw: ich war auch in Poona beim Backzwang (nicht, um Sannyasin zu werden, sondern um zu verstehen, warum es so viele unserer Generation und Freunde "erwischt" hat). Kurz gesagt: ich kann nichts Denunzierendes über Poona berichten, obwohl ich mit dem festen Willen hingeflogen bin, mich über alles aufzuregen.

Wenn es jemanden gibt, der verstanden hat, wie Deutsche ticken, dann war es dieser zierliche kleine Mann aus Indien mit den zehn Zentner schweren Rollexes an jedem Handgelenk, am überdimensionierten Lenker einer Harley-Davidsen (für ihn, den Zarten, Zierlichen überdimensioniert, man hatte immer Sorge, sie fällt auf ihn drauf und erschlägt ihn) während im Hintergrund eine Phalanx Rolls Royces standen, auf die aus einem Hubschrauber Rosen abgeworfen wurden...

Ich habe später einen guten Freund leise sagen hören, daß ihm niemand mehr erzählen müsse, wie das mit Hitler funktioniert hätte. Aha, habe ich mir gedacht und warum ist dasselbe den Italienern in Poona nicht passiert?

Die sind in jede Gruppe rein wie in eine Wellness-Veranstaltung. Immer in ihrer eigenen Gruppe geblieben, nie anders als italienisch gesprochen, bei den freiwilligen Diensten sich sofort kollektiv fürs Kochen gemeldet, beim öffentlichen Kochen, sehr zentral, jede noch so mauerblümelnde Sanyassin angemacht, deren Laune damit erheblich gesteigert und wenn das beim besten Willen nicht mehr zu verantworten war, weil die ein Schild an ihrem Kaftan hängen hatte "in silence", dann wurde gesungen: Avanti Popolo, natürlich. (Und nicht: shiva-shiva-shanti - wie die überidentifizierten Deutschen).



Während auch heute noch jede Menge Sanyassins in Deutschland herumlaufen, wirst Du keinen Italiener mehr finden, der das nicht nur als Episode in seinem Leben angesehen hat: ich nehme mal an, hätte ein Marokkaner die Chance gehabt zu den Hoch-Zeiten des Ashrams dort auch mal mitmischen zu dürfen - er würde noch heute Hallelujah singen und so ziemlich aus denselben Gründen wie es die Italiener dort seinerzeit taten. Nur echt Ungläubige hatten damit längerfristig ein Problem: wer so richtig deftig katholisch erzogen worden war, für den war das ein Schlaraffenland, ein Paradies. Nur ein Deutscher konnte daraus dann ein System machen, eine Religion, etwas ernsthaft Komisches.

Btw: die Japaner die dort waren, waren auch ulkig. Die haben sich in der einen Woche Weinen (= eine Woche Lachen, eine Woche Weinen, eine Woche stumm Sitzen - musste ich unbedingt machen, habe es aber mit Karacho dann hingeschmissen) auf ihren Matten auf den Rücken gelegt, ihre Beine an den Körper gezogen und dann gewimmert wie kleine Baby's mit Pampers, die sie leider nicht in echt anhatten, sondern nur diese neumodischen Shorts, wo an allen Seiten alles mögliche raushängt und auseinanderklaffen kann...Für Japaner war der Ashram und der Backzwang der Freifahrtschein in die Regression: nichts ist abturnender als ein mit den Beinen in der Luft strampelnder Japaner, der nach seiner Mama greint. Und das alles im Gruppenzwang: völlig abgeschottet von irgendjemandem sonst, husch-husch rein in den Raum, husch-husch wieder raus, nie sich vermischt mit anderen oder gar neugierig auf andere, sondern autistisch auf sich selbst konzentriert, rausholend, was man an Nonkonformismus rausholen konnte...

Die grösste Gruppe und auch die wohlgelaunteste waren jedoch Inderinnen während ich dort war: wohlhabende Inder schicken ihre Frauen regelmässig in einen Ashram zur seelischen Reinigung oder um sie aus dem Weg zu haben. Auffallend war nicht nur ihre zur Schau getragene Wohlgenährtheit und ihre kostbaren Saris (im Gegensatz zu den Hungerhaken aus München und anderswo), sondern auch die Routine bei den Meditationen: drei Wochen Lachen-Weinen-Sitzen war für sie eine der leichteren Übungen.

Besonders geübt waren sie im Lachen: sie haben gelacht, daß sich die Balken bogen - wenn man Probleme hatte zu lachen, musste man nur in ihre Nähe gehen und schon musste man mitlachen. Ansteckendes Lachen wie Gähnen: Weinen kann jeder, besonders wenn man dazu noch eine Leonhard-Cohen Platte auflegt - aber Lachen? Lachen ist extrem schwer für Nicht-Inder.

Wie sich dann herausgestellt hat, eigne ich mich nicht für Gruppenzwang (Überrschung!), aber hervorragend zum Stillsitzen: im fliessenden Mondlicht mit Blick auf einen schwarzen Teich auf dem Schwäne kreuzen, nur unterbrochen von sanftem Samtschuhschleifen einer ruhig auf- und ablaufenden Person, die einem dann tatsächlich mit einem kleinen Besen auf den Kopf schlägt, dann dem nächsten, dann dem übernächsten, bis sie nach einer halben Stunde zurückkehrt - wutsch-klatsch, wutsch-klatsch. Nach ungefähr zweieinhalb Stunden perlt man wie ein gut abgelagerter Champagner und bleibt in dieser Stimmung auch bis zum Rest der Zeit, von der man nicht mehr weiß, wann sie angefangen hat und wann sie aufhören wird.

Wenn der eThomas beim Backzwang war, fresse ich meinen Besen.

Josi

* Offtopic: Ein Mann, den man domestizieren kann, ist kein Mann, der es wert ist, domestiziert zu werden (von mir).