Hallo Najib,

mit der Vermutung, daß es sich eher um christlich/kirchliches Recht handelt hast Du recht*.

Eines der traditionsreichsten Instrumentarien zur Reglementierung von Ehe- und Liebesbeziehungen war das kanonische Verbot von Verwandtenehen. Dieses entstand im 4. Jahrhundert und erstreckte sich seit dem 2. Lateralkonzil von 1215 in den Seitenlinien auf vier Grade, die ebenso vielen "Zeugungen" entsprachen. Das kanonische Konzept von Verwandtschaft umfaßte Blutsverwandtschaft, Schwägerschaft, geistliche Verwandtschaft (Paten) und bürgerliche Verwandtschaft. Von diesen Ehehindernissen konnte die Kirche unter bestimmten Voraussetzungen die Dispens erteilen, nach dem Wunsch des Konzils von Trient (1545 - 1563) jedoch nur in Ausnahmefällen.

Eine Änderung der kanonischen Vorschriften brachte erst das 20. Jahrhundert.


Warum hat die Kirche - bis hinein in "geistliche Verwandtschaft" (die gewiß keinen Dorftrottel hervorbringen können) - Ehen zwischen Nahestehenden mit so weitreichenden Verboten belegt?

Zum einen, weil damit nicht unerhebliche Vermögen frei wurden (bevorzugt von Witwen) und an die Kirche gefallen sind. Zum anderen, weil derart ausgeklügelte Ehehindernisse praktisch in jeden Clan in jeder Generation erhebliche Löcher schießt: was einem zu engen Zusammenhalt im Sinn von Kontrollierbarkeit, Information, Aufruhr und Häresie den Boden entzieht.

Für den Machtapparat Kirche ein existenzielles Anliegen.

Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts taucht in der kirchlichen Literatur dann der Hinweis auf genetische Schäden auf, für die sie sogleich auch die auf dem Fuße folgende Strafe ausgemacht hat: Kinderlosigkeit, verkrüppelte Nachkommenschaft und früher Tod. Für die Kirche waren damit die im Jahr 1848 zum ersten Mal aufgetauchten "wissenschaftlichen" Erkenntnisse über angebliche genetische Schäden ziemlich praktisch, weil sie insgesamt sich gesünder angehört haben als das bisher Verlautbarte:

"Die Engherzigkeit der Verwandtenliebe muß gebrochen werden durch die Aufnahme stets neuer Glieder in den Kreis der Familie". Ehen zwischen nahen Verwandten vergifteten das Familienleben, in "dessen Verkehr sie die sinnliche Begierde und den Verdacht derselben einführten". Die Ehe hätte "nicht die Funktion "engherziger, egoistischer Verwandtenliebe" zu dienen, sondern jene, ein "Liebesband der Societät" zu sein*.

Das zentrale Motiv der Verwandtenehen-Verbote ist nicht die Verhinderung von verkrüppelten Nachkommen, sondern die Verhinderung von Machtkonzentration von Sippenverbänden. Was das jetzt mit Zwangsehen zu tun haben soll, weiß ich auch nicht, aber vielleicht erhellt es das Dunkel an absoluter Geschichtslosigkeit in der wir trotz des allgegenwärtigen Wikipedia derzeit leben (vom 4. Jahrhundert bis in die erste Hälfte des 20. Jahrunderts praktiziertes kanonisches Recht und wir haben keine Ahnung mehr, was das gewesen sein soll).

Josi

* Auszug aus dem Aufsatz: "Endogamieverbote zwischen kanonischem und zivilem Recht" von Edith Saurer (aus: Frauen in der Geschichte des Rechts, C.H. Beck-Verlag)



Last edited by Josi; 25/11/11 12:29 AM. Reason: kanonisch statt katholisch