Lieber Afulki,

Gerhart Polt sagt in etwa das über die Demokratie was Du über die gekauften Jubelperser in Agadir schreibst: man braucht Freibier und den ADAC - mehr wollen die Menschen gar nicht. Und ich hatte gehofft, daß Du irgendein anderes Vorbild aus dem Ärmel zaubern kannst, das für Marokko taugen könnte.

Harry Mulisch hat sich dazu - außer Gerhart Polt - auch ein paar Gedanken gemacht und die folgende Anekdote erzählt (Harry Mulisch; Vater österreichischer Nazi, Mutter Jüdin, die Großeltern im KZ umgekommen) in der "Entdeckung des Himmels" aus dem Jahr 1991:

"..ich hatte einmal ein Dinner im Elysee-Palast. Mir gegenüber saß ein französischer Soziologieprofessor. Nach der Tischrede von Mitterand erzählte er, einige seiner Studenten hätten während des Wahlkampfes die Plakate mit den Porträts von Mitterand und Giscard d'Esting in irgendeinem zurückgebliebenen Bauerndorf in Thailand aufgehängt. Die Bevölkerung hatte nie von den beiden Herren gehört, und niemand konnte lesen, was auf den Plakaten stand. Am Tag nach der Präsidentschaftswahl ließen sie sie wählen, und was meinst du? Das Ergebnis entsprach genau dem in Frankreich.

Damals lachten wir darüber, der Professor betrachtete das als guten Witz, und ich glaube nicht, daß er jemals die schreckliche Konsequenz daraus zu ziehen gewagt hat; aber mir fiel die Anekdote plötzlich wieder ein, als ich dahinterkam, wie es sich mit der Macht eigentlich verhält. Alle Mächtigen sind Naturereignisse und in diesem Sinn "Übermenschen" - aber dieses "Über" sitzt nicht in ihrem Geist, sondern in ihrem Körper: Mitterand mehr als Giscard und Reagan mehr als Carter, quer durch alle Länder und Jahrhunderte, all diese Dark Ladies der Macht.

Und noch schrecklicher ist, daß es so sein muß.


Der erste Capitano einer Dynastie hatte die physische Machtpräsenz eines Hitler, Stalin, Mussolini, Churchill, Fidel Castro oder Napoleon; danach reichte es aus lediglich Fleisch seines Fleisches zu sein. Diese "Erstlinge" heißen in vielen Sprachen nicht umsonst "geborene Führer". Kriege waren jahrhundertelang dynastische Kriege, wie bei der Mafia, es ging um die Interessen der fürstlichen Familien: seit Babylon und dem alten Ägypten ist es immer so gewesen, Beamte sind ewig, aber Beamte ohne Führung sind Kleider ohne Kaiser.

Daran könnte ein geeintes Europa durchaus scheitern.


Das hat Harry Mulisch 1991 (!) geschrieben und Europa wird daran scheitern.

Ich sehe im arabischen Frühling deshalb auch keineswegs einen Aufbruch zum Besseren, sondern vielmehr das Hinwegfegen von unfähigen Emporkömmlingen:

WER dann kommt ist die Frage und nicht WAS dann kommt.

Und das werden dann auch die Marokkaner exakt so entscheiden wie das "zurückgebliebene Bauerndorf in Thailand" - für den König: oder siehst Du da einen dritten Weg?

Josi