Hallo Koschla,

ich stimme Dir zu, daß es bei uns vor 70 Jahren auch nicht viel anders war als in Marokko heute: was die Verbote, Gebote, Sitten und Gebräuche zwischen Männern und Frauen angeht. Wo sich die beiden Länder jedoch ganz gravierend unterscheiden sind die kollektiven Erfahrungen und Traumatas, die uns aus zwei Weltkriegen in Deutschland noch in den Knochen stecken - die es so in Marokko (trotz Willkür und Folter unter Hassan II) nicht gegeben hat und schon gar nicht systematisch, unter Verwandten, Nachbarn, Freunden - als institutionalisierter Verrat wie im 30jährigen Krieg. Einer der aufschlußreichsten Filme in dieser Hinsicht ist "Der Tod ist ein Meister aus Deutschland" (von Claude Lanzmann), der mir eine Erkenntnis quasi als Nebenprodukt geliefert hat, die mein Leben verändert hat:

er hat unter anderem auch rein statistisch untersucht, wo, zu welchem Zeitpunkt, welche Nation welche Juden ausgeliefert, verraten oder mit eigener Hand umgebracht hat, nachdem es offiziell "erlaubt" war sie auszuliefern, zu verraten oder umzubringen (und sich ihrer Habe zu bemächtigen). Am besten hat Bulgarien abgeschnitten, die keinen einzigen Juden ausgeliefert haben und schon gar keinen beraubt oder umgebracht haben: ihnen wurde es schlicht und einfach vom geistigen Oberhaupt, der gleichzeitig Staatspräsident war, untersagt (kommt einem irgendwie bekannt vor) - zum Zeitpunkt als die Juden schon an einem zentralen Platz zusammengetrieben waren. Punkt: mehr war nicht. Es ließ sich nicht mit dem Glauben vereinbaren, Wehrlose, Frauen und Kinder auszuliefern.

Das andere Land war Italien: Italien liegt gleich an zweiter Stelle der Nationen, die den Nazis die wenigsten Juden ausgeliefert haben - befragt, warum so viele Juden versteckt, nicht verraten, nicht ausgeliefert haben, haben die betroffenen (einfachen) Personen mit den Schultern gezuckt und erklärt: "man liefert der Obrigkeit prinzipiell niemanden aus - was die oben anordnen, wird unten einfach nicht gemacht". Damals dachte ich: ich müsste jetzt im eigenen Interesse eigentlich sofort nach Italien auswandern - denn Italien hat sich nicht nur hier ruhmreich geschlagen (menschlich betrachtet), sondern schon währen der Inquisition: alles in allem waren es "nur" knapp mehr als 10.000 Ketzer, die dran glauben mussten, zu den Hunderttausenden in Deutschland und der Million in Spanien. Auch da waren die Italiener erfinderisch: es war nicht erlaubt, unter der Folter erpresste Geständnisse zu verwenden.

Der langen Rede kurzer Sinn:

wenn ich so parteiisch für Marokko bin und in Kauf nehme, daß ich hier in Marokko nicht immer so schalten und walten kann wie ich es als westliche Frau in Europa tun könnte, wenn ich (noch) wollte, dann liegt das an der Vergangenheit dieses Landes und der Nichtgegenwart von Millionen Opfern (die man ebenso fürchten muß wie die Täter) und der nur sehr marginalen Zahl von Idioten, von Systematik gar nicht zu reden - die Kurzsichtigkeit im strategischen Denken gepaart mit dem Hinnehmen dessen, was unabänderlich ist (ohne vorwurfsvoll, beleidigt oder von Schicksal ganz persönlich gekränkt zu sein) kommt in jeder Hinsicht der italienischen lebenserhaltenden anarchistischen Einstellung sehr nahe: daß wir schneller am Abgrund (der EURO wird abstürzen, Spanien, Portugal und Irland werden Griechenland folgen, wir werden eine galoppierende Inflation bekommen, Frankreich und Deutschland werden ihre Erzefeindschaft wieder ausgraben und die dummen Deutschen werden ganz umsonst in ihren Hamsterrädern geackert haben und keinerlei Pension, keine Krankenkassen mehr haben und auch keine Familien mehr, die sie auffangen) stehen als gedacht, überrascht mich nicht.

Deshalb sollten wir uns unser Refugium erhalten, es nicht öffenen für die hirnverbranntesten Deppen Deutschlands und Österreichs und im übrigen wird es dann in Europa auch keine Frauenfrage mehr geben, sondern Hauen und Stechen aller gegen alle.

Soviel zum Weltuntergang für heute - Lösungen dann morgen.

Josi