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Das marokkanische Schul und Bildungssystem #61035
03/11/02 09:58 PM
03/11/02 09:58 PM
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Malim Offline OP
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Im Zeichen des Aufbruchs: Das marokkanische Schul- und Bildungssystem

Regina Keil-Sagawe

1. Derzeitige Situation im Erziehungs- und Bildungswesen

Heute zu berichten über das marokkanische Schul- und Bildungssystem, heißt den Blick zu lenken auf die Gesamtgesellschaft, denn das alawitische Königreich lebt im Zeichen des Auf- und Umbruchs - überspitzt formuliert, zwischen Mittelalter und Cyberspace. König Hassan II., der unerwartet im Juli 1999 verstarb, hat zwei Jahre vor seinem Tod, vier Jahrzehnte nach Ende des französischen Protektorats, noch die Weichen für eine demokratische Öffnung gestellt: Die Verfassung ist bereits reformiert, die Presse liberalisiert, die Zivilgesellschaft aktiviert, und die Monarchie selbst dank "M6", dem jungen König Mohammed VI., so populär und dynamisch wie nie. Doch das freundliche Tableau wird entstellt von einem riesigen Schönheitsfleck - einer bestürzend hohen Analphabetenquote, einem überholten, unrentablen Erziehungssystem, dessen negative Auswirkungen in allen Bereichen des marokkanischen Alltags spürbar sind:

Massen von Schul- und Studienabbrechern sowie arbeitsloser Akademiker als Ergebnis von Jahrzehnten unzulänglicher Schulreformen stellen eine potentielle Gefährdung des sozialen Friedens und ein reales ökonomisches Handicap für das Schwellenland dar, das auf internationalen Märkten konkurrenzfähig werden will. Die hohe Quote von Analphabeten bei der erwerbstätigen Bevölkerung - über 80% in der Landwirtschaft, über 48% in der Industrie, 33,5% im Dienstleistungssektor - lässt Technisierungs- und Modernisierungsversuche ins Leere laufen, führt zu geringer Produktivität und minderer Produktqualität und schreibt gesamtgesellschaftlich letztlich einen Zustand der Unterentwicklung fest.

Bei einem Tempo von durchschnittlich 10% pro Jahrzehnt, mit dem bisher trotz gesetzlicher Schulpflicht die Alphabetisierung der mittlerweile 28 Millionen Marokkanerinnen und Marokkaner voranschritt - von 90% zu Beginn der Unabhängigkeit über 87% in den 60ern, 70% in den 80ern, 56% heutzutage -, wäre noch mit einigen verlorenen Generationen zu rechnen, bis die "Geißel des Analphabetentums" - so der Sprachgebrauch marokkanischer Medien - "ausgerottet" ist. Fast die Hälfte (45%) der 1997 14- bis 17-Jährigen sind nie zur Schule gegangen, und auch von den Sieben- bis Zwölfjährigen gingen 1997/1998 erst 70,7% dorthin. Selbst Länder wie Botswana oder Namibia stünden besser da, konstatiert La Vie Economique vom 17. September 1999 in einer Sonderbeilage zum Unterrichtswesen.



Am härtesten trifft es die Landbevölkerung mit 75,4%, die Frauen gar mit über 88,7%. Neun von zehn Frauen auf dem Lande können weder lesen noch schreiben: eine Bilanz, die Marokko weltweit auf den fünftletzten Platz verweist, auf den vorletzten bei den arabischen Staaten, den allerletzten im Maghreb.

Derart alarmierend sind diese Zahlen, dass die im Herbst 1997 neu angetretene sozialistische Regierung Youssoufi die Ministerposten verdoppelt und den Feldzug gegen die Unwissenheit zur nationalen Priorität erklärt hat - nicht zuletzt, um die dramatische Landflucht zu stoppen und eine soziale Zeitbombe zu entschärfen:

Im Mai 1998 präsentiert Erziehungsminister Ismaïl el Alaoui ein Bündel von Sofortmaßnahmen, das in Rekordzeit den katastrophalen Rückstand aufholen soll und im August verabschiedet wird. Im Juli 1998 ruft König Hassan II. in seiner Thronrede zu einer umfassenden Reform des marokkanischen Erziehungs- und Bildungswesens auf und bestellt eine 38-köpfige Expertenkommission, die COSEF - "Commission spéciale éducation et formation" -, die unter Vorsitz von Abdelaziz Méziane Belfkih, der inzwischen zum Ratgeber von Mohammed VI. avanciert ist, zunächst eine präzise Bestandsaufnahme vorlegt und im November 1999 dann ein ambitioniertes Reformprojekt, die "Charte nationale d'éducation et de formation", die seither landesweit diskutiert wird und mit Beginn des kommenden Schul- und Studienjahres - ab September 2000 - zur Anwendung kommt.

2. Die Charta zur Reform des Erziehungs- und Bildungssystems: ein neuer Gesellschaftsvertrag

Als "neuen Gesellschafts- und Kulturvertrag zwischen der Nation und ihrer Schule", zu dessen Gelingen jeder beitragen müsse, präsentiert Abdelaziz Meziane Belfkih die Charta am 9. November 1999 der Öffentlichkeit. Mittelfristiges Ziel sei es, die Analphabetenquote bis 2010 unter 20% zu drücken, sie bis 2015 ganz zu eliminieren und das gesamte Erziehungs- und Bildungssys-tem einer radikalen Reform zu unterziehen. Um das zu erreichen, wird das Dezennium 2000 - 2009 zum "nationalen Erziehungs- und Bildungsjahrzehnt" erklärt, der Erziehungs- und Bildungssektor gleich nach der "Unversehrtheit des nationalen Territoriums" zur "ersten nationalen Priorität" erhoben. In einem Solidarpakt ohnegleichen, der die gesamte Bevölkerung mobilisiert und alle Akteure des öffentlichen Lebens impliziert - Regierung und Parlament, Kommunen wie Parteien, Gewerkschaften und Berufsverbände, Vereine und Provinzverwaltungen, Geistliche, Wissenschaftler, Intellektuelle und Künstler - soll die Reform, die von Anspruch und Umfang her die Kapazität des Staates bei weitem übersteigt, angekurbelt werden. Nicht ohne Hintergedanken scheint auch die Metapher vom "Schalthebel - levier de changement" gewählt, an dem es anzusetzen gilt: 19 dieser "leviers" sieht die Charta vor, verteilt auf sechs große Reformbereiche ("espaces de rénovation"): Generalisierung des Unterrichts und Umstrukturierung des Schulsystems, qualitative Anhebung des Niveaus von Erziehung und Ausbildung, Verbesserung der Lage der Lehrenden und Lernenden, Verwaltungsreform und Finanzierung der Reform. - Die Grundzüge der Charta werden im folgenden kurz skizziert.

2.1. Erziehungsziele und -grundlagen

"Die Wurzeln der Zukunft" ist der marokkanische Pavillon auf der EXPO 2000 in Hannover überschrieben - ein Motto, das nicht minder auf die in der Charta definierten Erziehungsziele und -werte passt. Auf der unverrückbaren Trias von islamischem Glauben, Liebe zum Vaterland und Bekenntnis zur Konstitutionellen Monarchie ist das Ziel der Erziehung der mündige Bürger, rechtschaffen, maßvoll, tugendhaft, demokratiebewusst, dialogfähig und tolerant. Er respektiert die universellen Prinzipien der Menschenrechte ebenso wie die his-torisch gewachsene, ethisch-kulturelle Vielfalt seines Landes, die ihm als Bereicherung gilt. Ausgestattet mit Wissensdurst und Forscherdrang, Eigeninitiative, Kreativität und Unternehmergeist bringt er sein Land wissenschaftlich und technologisch voran und trägt zu seiner Konkurrenzfähigkeit und seiner wirtschaftlichen, sozialen und menschlichen Entwicklung bei in einer Epoche, die geprägt ist von Weltoffenheit. Neben der perfekten Beherrschung des Arabischen, der offiziellen Landessprache, kommt den weltweit verbreitetsten Fremdsprachen ein wichtiger Stellenwert zu.

2.2. Die Reformbereiche der Charta

2.2.1. Generalisierung des Unterrichts und seine Anbindung an wirtschaftliche Belange

Schulen für das Land

Um aus der Vision Realität zu machen, dass ab dem Schuljahr 2002/03 jedes sechsjährige Kind - vs. 76,6% heute - auch eingeschult, ab dem Jahr 2004 dann ab dem vollendeten vierten Lebensjahr gar die allgemeine Vorschulpflicht eingeführt wird - muss die Infrastruktur im ländlichen Raum massiv ausgebaut werden, wobei Wirtschaft und Industrie, internationale Organisationen und vor allem die nationalen ONGs - Organisations non-gouvernementales (nichtstaatliche Organisationen mit sozio-ökonomischer, humanitärer oder kultureller Ausrichtung, unseren Bürgerinitiativen und Vereinen vergleichbar, Rückgrat der marokkanischen Zivilgesellschaft und wichtiger Entwicklungsfaktor des Landes), dem Staat sekundieren.

Die Schule außerhalb der Schule - neue Wege der Alphabetisierung

Mit Unterstützung von Wirtschaft und Zivilgesellschaft werden drei weitere große Problemgruppen zu alphabetisieren versucht. Die werktätige Bevölkerung, zu rund 50% nicht des Schreibens und Lesens kundig, wird nach Prinzipien der Erwachsenenbildung funktional alphabetisiert. Fernziel: Senkung der Analphabetenquote bis zum Jahr 2010 auf 10%. Im Rahmen der éducation non formelle, kurz ENF, einer pädagogischen Neuerung, 1997 vom marokkanischen Ministère de l'Education Nationale in erstmaliger offizieller Zusammenarbeit mit den ONGs lanciert, sollen zum einen die Arbeitslosen, vor allem die Mütter auf dem Lande und in den Vorstädten, im Rahmen integrierter Entwicklungsmaßnahmen, abzielend auf Problembereiche wie Gesundheitsvorsorge, Empfängnisverhütung, Kindererziehung und Haushaltsführung, erfasst werden, zum anderen die 2,5 Millionen Acht- bis 16-Jährigen (42% der Gesamtpopulation dieser Altersgruppe), die durch die Raster der Schule gerutscht sind: Bisher haben 36.000 Jugendliche davon profitiert, 44 ONGs mit rund 800 Erziehungs - "Animateuren" sind zur Zeit aktiv, 180 weitere ONGs warten auf Subventionen, um auch einzusteigen.

Verstärkung des Praxisbezugs - Orientierung an der Wirtschaft

Zur Reduzierung der hohen Zahl von Schul- und Studienabbrechern sowie der Arbeitslosenquote auch bei Abiturienten und Akademikern wird von der Vorschule bis zur Universität der Praxisbezug verstärkt. Vielfältig sind die Möglichkeiten zum Wechseln und Quereinsteigen, es wird eine "formation alternée" eingeführt, die es erlaubt, sowohl einen theoretischen als auch einen berufsbezogenen Abschluss zu machen. Der Sektor der beruflichen Fort- und Weiterbildung wird so weit ausgebaut, dass jährlich mindestens 20% der arbeitenden Bevölkerung davon profitieren können.

2.2.2. Umstrukturierung des Schulsystems

Umreißen wir kurz den Status quo: Der Pflichtschulzeit fakultativ vorgeschaltet ist die Vorschulerziehung, in der Regel in privater Hand und dem Nachwuchs einer privilegierten städtischen Minderheit vorbehalten. Nur jedes dritte Kind besucht die Vorschule, davon nur 32% Mädchen. In Ermangelung verbindlicher Curricula wird der Schwerpunkt auf Lesen und Schreiben gelegt, so dass viele Vorschulkinder bei Eintritt in die Primarschule bereits zweisprachig alphabetisiert sind und damit einen enormen Vorsprung aufweisen. Das Einschulungsalter wurde 1999 von sieben auf sechs Jahre gesenkt, die neunjährige Pflichtschulzeit ("enseignement fondamental"), bestehend aus sechs Jahren Primarschule und drei Jahren Collège, wird nur von 36 von 100 Schülern zu Ende gebracht. Von denen wiederum halten nur 13 bis zum Ende des "enseignement secondaire" durch, das nach drei Jahren mit Baccalauréat bzw. Diplôme de Technicien abschließt. Von zwölf, die sich an der Universität einschreiben, machen nur fünf ihren Universitätsabschluss, um hinterher arbeitslos auf der Straße zu stehen - eine triste Bilanz, die sich unter anderem dadurch erklärt, dass die schwächeren Schüler (51,1%) von den Lehrern Richtung "Lettres"-Abitur, also Literatur und Sozialwissenschaften, gedrängt werden (vs. 5,5% Technik, 3,2% Mathematik), wodurch ihnen an der Universität nur literarische Disziplinen (Geschichte, Geographie und Islamwissenschaften) offenstehen. So sind an den 14 Universitäten Marokkos mit ihren rund 50 Fakultäten und Instituten, sowie einigen Dutzenden Privatinstituten 1998 66% aller Studierenden in Literatur, Jura, Wirtschaftswissenschaften eingeschrieben, nur 23,2% in Naturwissenschaft und Technik - völlig an den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes vorbei.

Strukturreform der Unterrichtszyklen

Ziel der Unterrichtsreform ist es, a) durch Ausweitung der Schulpflicht auf die Vorschule eine maximale Chancengleichheit zu gewährleisten, b) durch enge Verklammerung der einzelnen Zyklen die sog. Schwundrate ("déperdition") drastisch zu senken und c) durch Einrichtung der Instanz eines "Schullaufbahnberaters" die menschlichen und volkswirtschaftlichen Frustrationen gen Null zu lenken. - Das neue Schulsystem präsentiert sich somit wie folgt, wobei eine gemeinsame Basis, fortschreitende Spezialisierung und Umsteige-möglichkeiten auf allen Ebenen die prägenden Züge sind:

Name
Schultyp
Jahre
Alter
Name
Name
Abschluss

"Le
Préscolaire
2
4-6
Cycle de

base

Pri-

maire"
Ecole

primaire
2

4
6-8

8-12
1er cycle

2nd cycle
Cycle inter-médiaire
CEP

(certificat d'édudes primaires)

"Le
Collège
3
12-15

Cycle secondaire collégial
BEC

(brevet d'enseigne-ment collégial)

Secon-

daire"
Secondaire
1



2
15-16



16-18
c. tronc commun

cycle. Bacca-lauréat
Cycle secondaire qualifiant
DQP

BETP

BEG


Neben der umfassenden Revision der Prüfungsmodalitäten ist die Einführung einer Schullaufbahn- und Berufsberatung zur Senkung der Abbrecherquoten und zur Lenkung der Schüler in Richtung auf volkswirtschaftlich sinnvolle Berufe geplant. Bis 2005 soll das Land mit einem flächendeckenden Netz von "Centres de conseil et d'orientation" überzogen sein und jede Sekundarschule über einen eigenen "Conseiller d'orientation" verfügen.

Weitere Reformen betreffen:

a) das Koranschulsystem bzw. "enseignement originel", das der Vorbereitung auf geistliche Berufe dient, von der Vorschule bis zum Sekundarstufenniveau reformiert werden soll und zumal eine Verstärkung des Fremdsprachenunterrichts erfährt; b) die Gemeinschaft der Marokkaner, die im Ausland leben, und denen über interaktives Fernsehen und neue Medien die Möglichkeit gegeben werden soll, den Anschluss an die Entwicklung Marokkos und des marokkanischen Bildungssystem zu wahren, um ihrem Nachwuchs bei der Rückkehr die Integration zu erleichtern; c) die jüdische marokkanische Minorität, die - wie zu früheren Zeiten üblich - nunmehr wiederum private Konfessionsschulen eröffnen kann; d) die Universitäten, die bis zum Jahr 2003 gestrafft und umstrukturiert werden: in zwei Zyklen à fünf Semester, deren erster mit dem DEUP (Diplôme d'Enseignement Universitaire Professionnel) abschließt - das den Übergang ins Arbeitsleben erlaubt und die Abbrecherquote von 60% auffangen soll -, oder aber dem DEUF (Diplôme d'Enseignement Universitaire Fondamental), welches überleitet zum Second cycle, an dessen Ende die Maîtrise steht. Der Troisième Cycle bzw. Promotionsstudiengang umfasst ein Vorbereitungsjahr, das ins DESA (Diplôme des Etudes supérieures approfondies) mündet, gefolgt von drei bis vier Jahren bis zur Doktorprüfung.

2.2.3. Qualitative Anhebung des Schul- und Ausbildungsniveaus

Neben die formale Strukturreform tritt die Revision der Inhalte: Curricula und Lehrmaterial, Stundenpläne und Schulrhythmus werden an den sozio-regionalen Kontext angepasst, wobei Kohärenz, Überschaubarkeit und Flexibilität zentrale Kriterien sind:

Die Curricula werden soweit aufgelöst, dass nur 70% noch verbindlich national vorgeschrieben sind und je 15% mit regional relevanten bzw. von Schülern oder Eltern gewünschten Inhalten gefüllt werden können.
Schulkalender: Die vorgeschriebenen 34 Unterrichtswochen, insgesamt 1000 - 1200 Unterrichtsstunden, werden frei über das Jahr verteilt, abgestimmt auf regionale bzw. lokale Gegebenheiten wie Erntezeit, religiöse Feste etc; am ersten Schultag - dem zweiten Septembermittwoch - wird künftig
das Schulfest, die Fête de l'école, begangen: Empfang der Eltern, Bekanntgabe der Stundenpläne und feierliche Verlesung der Präambel der Reform-Charta ...

Eine neue schulische Sprachpolitik, "une politique linguistique claire, cohérente et constante" (§ 110), wird postuliert, die im Bekenntnis zur historisch gewachsenen Sprachvielfalt auf marokkanischem Territorium wie im Blick auf Marokkos geostrategische Position und aktuelle globale Imperative sowohl eine Verbesserung der arabischen Sprachkompetenz wie der allgemeinen Fremdsprachenkompetenz anvisiert und darüber hinaus erstmals eine Öffnung zum Tamazight - der Berbersprache, Muttersprache eines großen Teils der ländlichen Bevölkerung - vorsieht. - Im Universitätsjahr 2000/2001 wird eine "Académie de la langue arabe" gegründet, der es obliegt, durch terminologisch-lexikologisch-translatologisch-sprachdidaktische Vorarbeiten das Terrain zu bereiten für die Eröffnung arabophoner Universitätssektionen in den bislang ausschließlich französisch unterrichteten Naturwissenschaften und Technik. - Parallel zur Einrichtung arabophoner Universitäts-Sektionen werden bis zum Jahr 2010 progressiv gleichfalls hochspezialisierte fremdsprachige Sektionen eingerichtet - und zwar jeweils in der Sprache, die den wissenschaftlichen und kommunikativen Erfordernissen der Disziplin am besten entspricht; die Übergänge vom Gymnasium werden gewährleistet durch die Wahl der entsprechenden Unterrichtssprache im Cycle du Baccalauréat.
Modernste Kommunikationstechnologien kommen vorrangig im Bereich der Weiter- und Erwachsenenbildung zum Einsatz; bis Ende 2009 verfügen sämtliche Etablissements über Computerpool und Multimedia-Bibliothek.
Anreize für Leistung und Forschung werden geschaffen durch Preise, Wettbewerbe und Stipendien für die besten Absolventen; in jeder Region wird ab 2000-2001 in einem Pilotprojekt ein Elite-Gymnasium - "lycée de référence" - gekürt, das die besten Collège-Absolventen der Region aufnimmt.
Last not least soll der Sport in allen seinen Dimensionen - als Schul- und Universitätssport - aufgewertet und durch die Verstärkung der entsprechenden Infrastrukturen in gesamtgesellschaftlicher Hinsicht stärker verankert werden.
2.2.4. Motivierung und Verbesserung der Situation von Lehrenden und Lernenden

Wie schnell und erfolgreich die geplante Schul- und Bildungsreform sich letztlich durchsetzen lässt, hängt, darüber ist man sich völlig im klaren, zum größten Teil von den Lehrenden ab, von ihrer Qualifikation und Motivation - und da bleibt einiges zu tun. So ist neben der massiven Erhöhung des Lehrerkontingents an eine grundlegende Neuorganisation der Lehrerausbildung mit Anbindung an die Universitäten gedacht, an die Möglichkeit zur kontinuierlichen Weiterbildung sowie eine Verstärkung der Anreize zur Ergreifung des Lehrerberufs, wie etwa soziale Absicherung und staatliche Zuschüsse für Familie, Hausbau, Urlaub, Studienreisen etc. - Parallel dazu ist geplant, die schulische Infrastruktur - Schulkantinen, Sanitäres, Schultransport - massiv auszubauen, um die materiellen Umstände für die Schüler zu erleichtern, zudem bis Ende 2009 die Etablissements behindertengerecht auszustatten sowie - in Zusammenarbeit mit privaten Organismen - zum ersten Mal überhaupt reguläre Sonderschulen einzurichten.

2.2.5. Verwaltungsreform

Die Administration des Erziehungs- und Bildungssystems wird analog zur 1997 lancierten Verwaltungs- und Regionalreform umstrukturiert. Der Staat tritt die Flucht nach vorne an: décentralisation und déconcentration, werden als "choix décisif, stratégie irréversible et responsabilité urgente" (§ 144) ausgegeben, von denen man eine Rationalisierung, Vereinfachung und Beschleunigung aller Prozesse erhofft. - Den regionalen Akademien wird mehr Autonomie zugesprochen, zugleich erfolgt durch zu gründende ständige Koordinati-onskomitees eine Anbindung an Universitäten und Wissenschaftsinstitute. - Auch die Autonomie der Gymnasien wird erhöht, langfristig werden diese zu sich selbstverwaltenden Services d'Etat Gérés de Manière Autonome (SEGMA) umstrukturiert. - Neu zu gründenden Universitäten und Instituten wird die Auflage gemacht, ihre Ausbildungs- und Forschungsschwerpunkte auf die Bedürfnisse der Region abzustimmen.

2.2.6. Und wer finanziert die Reform?

Auch wenn der Staat sich verpflichtet, das Unterrichts-Budget jährlich um 5% aufzustocken, bliebe der oben skizzierte Zehnjahresplan in den Ansätzen stecken ohne massive Beteiligung des Privatschulsektors, den finanzielle Anreize wie Steuerbefreiung oder -erleichterung zur weiteren Expansion verlo-cken sollen. Schon heute gehen Prognosen davon aus, dass der Privatsektor im Jahr 2006 das staatliche Budget um circa 4,23 Milliarden Dirham (ca. 800 Mio. DM) entlasten wird.

In der Tat erfreut sich - neben den als Erbe des französischen Protektorats bis heute bei der marokkanischen Elite beliebten Schulen vom Typ der mission culturelle française sowie den beruflich orientierten Schulen - der Privatschulsektor, der als Schrittmacher gilt, in Großstädten wie Casablanca, Rabat, Agadir oder Marrakesch größter Beliebtheit. Seit neuestem gibt es integrierte Modelle - "conglomérats éducatifs" - die von der Krippe bis zur Universität den gesamten Erziehungs- und Ausbildungszyklus in einer Hand offerieren.

Einen Boom erlebt seit Mitte der achtziger Jahre auch der vorher völlig inexistente Sektor des "Enseignement supérieur privé", der privaten Hochschulin-stitute. Über 80 gibt es inzwischen, und immer häufiger kooperieren sie mit renommierten ausländischen Universitäten und Instituten, vor allem in Frankreich und Kanada, aber auch den USA, Spanien und mitunter Deutschland, um - in Abstimmung mit dem marokkanischen Wissenschaftsministerium - die begehrten ausländischen Hochschulabschlüsse des 3me Cycle anzubieten, mehrheitlich Business-Abschlüsse, da die staatlichen Universitäten der Erwartung der Unternehmen bisher nur selten Rechnung tragen.

Neben dem Appell zur Expansion an den Privatschulbereich wird die finanzielle Last der Reform im Rahmen der "solidarité nationale complète" noch auf andere Schultern verteilt, wird Ausschau gehalten nach Partizipationsmodellen, die von der Finanzierung der Vorschulen durch die Kommunen über die allgemeine Einführung von Schulgeldern im Sekundarbereich, später gar von Studiengebühren - nach Maßgabe des elterlichen Portefeuilles - bis hin zur Einrichtung von Studienkrediten zu Sonderkonditionen für die Studierenden reichen ...

Ein Beispiel für praktische Umsetzung: die pädagogische Avantgarde-Provinz Essaouira
Soweit also die Charta, an deren Diskussion die marokkanische Öffentlichkeit gegenwärtig regen Anteil nimmt. Während zur konkreten Umsetzung der skizzierten Reformen noch etliche Gesetze erlassen werden müssen, sind die Innovationen im Windschatten Rabats in manch entlegenem Winkel des Königreichs schon beachtlich weit gediehen.

Als Vorreiter für experimentelle Pädagogik gilt seit 1998 das CFI der pädagogischen Notstandsprovinz Essaouira, die mit einem Spitzensatz von 96,5% weiblicher und 76,5% männlicher Analphabeten neben Ouarzazate und Sidi Kacem, Errachidia und Al Hoceïma bislang den Negativrekord hielt. Kreativität war gefragt, um die Akzeptanz der Schule bei den Eltern zu erhöhen, indem man den Unterricht lebensnäher gestaltete, den schulischen Rhythmus jenem des Landlebens anglich, um wo immer möglich Synergieeffekte zu erzielen. Im Weiler Mouarid im Osten der Provinz beispielsweise, wo die Kinder sonntags Unterricht, montags schulfrei haben, um auf dem Wochenmarkt mithelfen zu können. Oder in Sidi Kaouki, Surfer-Hotspot südlich von Essaouira, wo die internationale ONG "ENDA Maghreb" mit der Anlage dreier Arganien-, Öl- und Mandelbaumschulen ein Modellprojekt lanciert hat, das die Schüler ökologisch sensibilisiert und die Eltern als kompetente Ansprechpartner miteinbezieht.

Dabei wird verstärkt auf die weiblichen Lehrkräfte gesetzt, die erst ein Drittel des Lehrkörpers an Primarschulen bilden, und von denen man sich einen leichteren Zugang zu den Familien erhofft. Ein Zugang, der wie im Fall des von der amerikanischen NGO "AMIDEAST TFD" geförderten Pilotprojekts in Tafetachte, an der Route nach Marrakesch, Kurse in Gärtnern und Weben einschließt, um Kinder und Mütter parallel zu erfassen. Seit 1998 absolvieren die Lehramts-Studenten dort auch Kurse in innovativem CCM-Management, d.h. sie lernen, wie man, ohne die Nerven zu verlieren, mit mehreren Klassen in nur einem Raum jongliert.

Außer Unterrichtspraktika hat das CFI der Provinz Essaouira, dessen Dozenten sich in einer Forschungsgruppe, dem G.R.A.P. - Groupe de Recherche et d'Animation Pédagogique - zusammengeschlossen haben, für seine 350-400 élèves-maîtres seit 1998 manch zunächst revolutionär wirkende Neuerung im Angebot: Arabisch-Didaktik in berberophoner Umgebung etwa und sogar Berberisch für Anfänger, damit sich Lehrer und Eltern nicht länger sprachlos gegenüberstehen. Getestet werden die neuen Sprachkenntnisse bei frühmorgendlichen, videogefilmten, später ausgewerteten Exkursionen auf die ländlichen Wochenmärkte, auf denen Welten aufeinanderstoßen: rotlippig kichernde Junglehrerinnen aus Casablanca und zahnlos schmunzelnde Turbanträger aus dem douar.

Dies sind vertrauenfördernde Maßnahmen, die konkrete Spuren hinterlassen: Signifikant mehr Eltern meldeten ihre Töchter daraufhin in der Schule an. So beim Donnerstagssouk im Berberweiler Tidzi geschehen, der idyllisch an der Küstenroute Richtung Agadir liegt, in einem Meer von Arganien, Oliven- und Johannisbrotbäumen. Die Schule liegt unweit der Durchgangsstraße, gegenüber dem Souk. Wer anhält und einen Blick in die Baracken riskiert, wird freundlich begrüßt: schüchtern lächelnde Knaben, festlich herausgeputzte Berbermädchen, in Spitzenkleidchen, mit Stickereibesatz, bunten Bändern und blitzenden Spangen im Haar. Mit funkelndem Blick und sich überschlagendem Stimmchen buchstabieren sie aufgeregt das Alphabet.

Besuch aus Heidelberg sind die Schulkinder dort seit zwei Jahren gewöhnt: Im Rahmen der freundschaftlichen Kontakte, die im Bereich von Kultur- und Jugendaustausch seit zwei Jahren zwischen Bürgern und Vereinen beider Städte bestehen, waren Besucher des Institut Français mit seinem Freundeskreis, von Agenda 21 und Volkshochschule dort, und zuletzt, im April 2000, der Deutsch-Französische Freundeskreis Heidelberg - Montpellier. Die Schreiberin dieser Zeilen, selbst "partenaire" des oben genannten G.R.A.P., hat die ersten experimentellen pädagogischen Aktivitäten des CFI in Essaouira 1998 begleitet und freut sich, dass es mittlerweile gelungen ist, zwischen dem CFI Essaouira und der Pädagogischen Hochschule Heidelberg einen Kontakt herzustellen, der es erlaubt, ab September/Oktober 2000 die ersten Studierenden der Heidelberger PH zu Schulpraktika am CFI und den Primarschulen von Essaouira zu empfangen.

Re: Das marokkanische Schul und Bildungssystem #61036
01/12/02 01:35 PM
01/12/02 01:35 PM
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Anna Norge Offline
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Anna Norge  Offline
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Danke, Zitoun, ein interessanter Artikel!

Ich habe ihn mir ausgedruckt, um ihn bei Gelegenheit in Ruhe zu studieren. Aber könntest Du so nett sein und die Quelle angeben?

Aus der Tabelle in dem Artikel werde ich, so wie sie hier steht, nicht schlau.

Gruss von Anna \:\)

Re: Das marokkanische Schul und Bildungssystem #61037
01/12/02 02:37 PM
01/12/02 02:37 PM
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Machu Picchu
Ibno_Rouchd Offline
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Ibno_Rouchd  Offline
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Machu Picchu
Salam Annas !
@Annas
ich finde es auch sehr interssant vor allen deutsch Literaturen in die Bereich sind seltenheit
der Artikel ist unter die Pädagogische Institut in Heidelberg zu finden :
Im Zeichen des Aufbruchs: Das marokkanische Schul- und Bildungssystem by ph-heidelberg.de

Wa Salam
your Ibno Rouchd


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