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Was die arabische Welt braucht, um ihren Niedergang zu stoppen #50861
29/01/05 10:26 PM
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Wo wir gerade beim Wirtschaftsthema sind:


DIE ZEIT 27 2005

Allahs Irrtum

Was die arabische Welt braucht, um ihren Niedergang zu stoppen

Von Fritz Vorholz


Vor 1000 Jahren war Arabien ein anderes Wort für Wohlstand. Vorbei. Heute hinken die 22 Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens, die in der Arabischen Liga vereint sind, wirtschaftlich hinterher. Einige von ihnen sind zwar reich an Öl, dem wichtigsten Rohstoff des Industriezeitalters. Trotzdem ist die Wirtschaftsleistung der gesamten Region kaum höher als die von Spanien.

Abgesehen von den afrikanischen Ländern südlich der Sahara, sagt Rolf J. Langhammer, Entwicklungsforscher und Vizepräsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, »bereitet uns die arabische Region die meisten Sorgen«. Fast 65 der rund 300 Millionen Araber sind Analphabeten. Zehn Millionen Kinder unter 15 Jahren besuchen keine Schule. In Algerien sind fast 40 Prozent der 15- bis 24-Jährigen arbeitslos, in Marokko und Ägypten jeweils 35 Prozent.

Jeder fünfte Araber muss mit weniger als zwei Dollar am Tag auskommen

Der Lebensstandard in den arabischen Ländern fällt gegenüber anderen Weltregionen immer mehr zurück. In den vergangenen 25 Jahren ist das Pro-Kopf-Einkommen kaum gestiegen, während es in den Entwicklungsländern insgesamt jährlich um mehr als zwei Prozent wuchs. Jeder fünfte Araber muss mit umgerechnet weniger als zwei Dollar pro Tag auskommen – trotz des Ölreichtums, trotz der Entwicklungshilfe, die sogar doppelt so hoch ist wie im Durchschnitt sämtlicher Dritte-Welt-Länder.

Was läuft schief in den arabischen Ländern? In einer Region, die über ein reiches kulturelles Erbe verfügt und die kolonialen Fesseln längst gesprengt hat? Hatte ihr Allah nicht den führenden Platz in der Welt verheißen? Stattdessen greift die Verelendung um sich – und mit ihr der islamische Fundamentalismus, den seine Anhänger als Ausweg aus der Misere preisen.

Ist es womöglich gerade die Religion, welche die Araber am Vorankommen hindert?

Volker Nienhaus, Ökonom und Präsident der Universität Marburg, ist dieser Frage nachgegangen. Er wollte wissen, ob der Koran und die Sunna, die von Gott autorisierte Interpretation des Korans durch den Propheten Mohammed, der Entwicklung einer modernen Wirtschaft entgegenstehen. Seine Antwort: Zeitgemäß interpretiert, ist der Islam ebenso wenig entwicklungshemmend wie die moderne Auslegung der christlichen Lehre.

Obwohl Allah die Güter dieser Welt allen Menschen zur Verfügung gestellt hat, erkennt islamisches Recht Privateigentum an Produktionsmitteln an. Die »Lehre vom gerechten Preis« lässt sich so deuten, dass Preise auf Wettbewerbsmärkten zustande kommen sollten. Und die islamische Lehre vom »rechtem Maß und Gewicht« ist nach moderner Auslegung eine Aufforderung, die Geld- und Fiskalpolitik am Ziel der Geldwertstabilität auszurichten. Zwar würden es muslimische Ökonomen anders formulieren. Tatsächlich aber, so Nienhaus, stellten die verschiedenen islamisch legitimierten Teilordnungen »eine Variante der sozialen Marktwirtschaft« dar.

Wenn nicht der Islam dem Fortschritt im Wege steht, woran hapert es dann in der arabischen Welt?

Lange Jahre haben arabische Intellektuelle in Teehäusern und Studierzimmern über diese Frage debattiert – bis das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) sie ermunterte, ihre Gedanken aufzuschreiben. Herausgekommen ist der Arab Human Development Report (AHDR), eine Abrechnung mit den arabischen Entwicklungsblockaden. 2002 erschien der Bericht erstmals, 2003 zum zweiten Mal. Die Publikation des dritten Reports, für Oktober vergangenen Jahres avisiert, verzögert sich bis heute. Der Grund: Der Text enthält kritische Äußerungen zur amerikanischen Irak- und Israel-Politik. Deshalb habe die US-Regierung beim New Yorker UNDP-Büro interveniert, behauptet Nader Fergany, ägyptischer Soziologe und Leiter des Teams, das den Bericht verfasst hat.

Als die Autoren vor drei Jahren erstmals zusammensaßen, war die Herausforderung immens. Es galt, die Wachstumshemmnisse sowohl in den reichen Ländern der Region, etwa den Vereinigten Arabischen Emiraten, zu identifizieren als auch in den armen wie dem Jemen, sowohl in Ländern, unter deren Boden Öl lagert, als auch in solchen, die über keine Rohstoffe verfügen, sowohl in bevölkerungsreichen wie Ägypten mit seinen mehr als 70 Millionen Einwohnern als auch in kleinen Ländern wie Qatar, das gerade einmal 600000 Menschen beherbergt.

Doch so heterogen die arabische Welt ist, das Team um Fergany fand Gemeinsamkeiten. Und zwar solche, die in ihrer Kombination »einzigartig« sind, wie der ägyptische Forscher sagt. Sämtlichen dieser Staaten fehlt es an Freiheit, Wissen und der Beteiligung der Frauen am wirtschaftlichen und öffentlichen Leben. Zwei dieser Defizite könne ein Land verkraften, so die Forscher. Doch dreifach gefesselt, träten die arabischen Länder auf der Stelle.

Tatsächlich berauben sich die Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens ihrer wichtigsten Ressource: der Menschen und ihrer geistigen Potenziale. »Wenn Gott einen Menschen demütigen wollte, würde er ihm Wissen verweigern«, zitieren die AHDR-Autoren den Imam Ali bin abi Taleb, den Vetter des Propheten Mohammed. Die Worte des Gelehrten aus dem 6. Jahrhundert sind heute treffender denn je. Doch die Regierungen der arabischen Länder missachten sie sträflich.

Innovation, Voraussetzung für die Reise in die Zukunft, findet in den arabischen Ländern so gut wie gar nicht statt – weil es an Anreizen mangelt. Stattdessen beschäftigen die arabischen Länder ausländische Experten (mehr als fünf Millionen allein in Saudi-Arabien) und importieren moderne Technologien. Ersteres verhindert, dass Wissen im eigenen Land aufgebaut wird, Letzteres führt in die Rückständigkeit. Denn importierte Maschinen und Fabrikanlagen veralten schnell, während sie anderswo ständig weiterentwickelt werden. Konsequenz: Nirgendwo ist der Anteil von Low- und erst recht von High-Tech-Gütern am Export niedriger als in den arabischen Staaten.

Jeder vierte Hochschulabsolvent wandert aus



© Zeit.de
Noch immer sind die arabischen Staaten weit entfernt vom Bildungsniveau ökonomisch vergleichbarer Länder. Immer noch wird vielen Kindern elementare Bildung vorenthalten. Und diejenigen, die eine Schule besuchen, müssen sich mit schlechtem Unterricht begnügen, vor allem mit mechanischem Auswendiglernen. Die wenigen Experten, die das arabische Bildungssystem hervorbringt, zieht es derweil ins Ausland: Mitte der Neunziger wanderte ein Viertel aller Hochschulabsolventen aus. Entwicklungshilfe umgekehrt.

Zudem betreiben die arabischen Länder eine ungeheure Verschwendung, indem sie die Hälfte ihres Humankapitals von vornherein ungenutzt lassen. In keinem anderen Land ist die Beteiligung der Frauen am Wirtschaftsleben niedriger. Nirgendwo, außer in den Armenhäusern Südasiens und in Afrika jenseits der Sahara, sind so viele erwachsene Frauen des Lesens und Schreibens unkundig. Es sind zwei von fünf.

Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen versucht seit einiger Zeit, die Situation der Frauen statistisch zu erfassen. Die meisten der arabischen Länder entziehen sich einer Bewertung, weil keine entsprechenden Daten erhoben werden. Doch jene, für die Erkenntnisse vorliegen, landen im internationalen Vergleich auf den hinteren Plätzen: Jemen auf dem letzten, Saudi-Arabien auf dem vorletzten, Ägypten auf dem viertletzten.

Das vermutlich gravierendste Entwicklungshemmnis sind jedoch Despotie und Günstlingswirtschaft. Sämtliche arabischen Staaten sind ganz oder teilweise unfrei. Das jüngste Demokratie-Ranking der amerikanischen Nichtregierungsorganisation Freedom House bezeichnet 15 arabische Länder als »vollkommen unfrei«, darunter Saudi-Arabien, Syrien und Ägypten. Die restlichen Länder landeten in der Kategorie »teilweise frei«. Auch laut der Bielefelder Bertelsmann Stiftung rangieren die arabischen Länder durchweg auf den hinteren Plätzen: im Hinblick auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und marktwirtschaftliche Regelungsprinzipien ebenso wie bei der Qualität des Regierungshandelns. »Es sieht wirklich finster aus«, sagt der Kieler Entwicklungsforscher Langhammer, der am Transformationsindex der Bertelsmann Stiftung mitarbeitet.

Mangel an Demokratie und chronische Wirtschaftsmisere – der desaströse Befund hat viele Ursachen, die weit in die Geschichte des Orients zurückreichen. Die hohen Steuern der osmanischen Herrscher trugen ebenso dazu bei wie Erbregeln, welche die Kapitalbildung behinderten; die auf Rohstoffausbeutung fixierte Politik der Kolonialmächte trägt ebenso eine Mitschuld wie die heutige der arabischen Eliten. Militärs und Königsdynastien – »im Vergleich zu den autokratischen Strukturen vergangener Zeiten kaum eine Verbesserung«, wie es im AHDR heißt – setzten sich an die Spitze der jungen Staaten. Sie missbrauchen die erlangte Unabhängigkeit vor allem für eins: für ihre Macht- und Bereicherungspolitik.

Jahrzehnte der Unterdrückung, der willkürlichen Rechtsauslegung und Zensur – eine Zivilgesellschaft konnte sich unter diesen Umständen in den arabischen Ländern kaum entwickeln. Wie also soll die Moderne in den Orient kommen? Zumal sich weltliche Despoten und islamische Fundamentalisten in einem einig sind: in der Ablehnung der Demokratie. Und zumal sich auch die Industrieländer nicht dafür stark machten. Dem Westen ging es bislang fast ausschließlich um die Stabilität der ölreichen Region. Davon profitierten die autokratischen Machthaber Arabiens: Sie konnten zu allem Übel eine »geostrategische Rente« kassieren, wie der Berliner Volkswirt und Islamforscher Dieter Weiss sagt.

Selbst die arabischen Reformkräfte misstrauen deshalb den Versuchen der US-Regierung, die Demokratie in den Orient zu exportieren. Sie habe »keinerlei Glaubwürdigkeit«, sagt der Ägypter Fergany, Hauptautor des AHDR. Hoffnungen verbindet er dagegen mit Europa. Eine Illusion? Die von der EU bis zum Jahr 2010 angestrebte Euro-Mediterrane-Freihandelszone, sagt der Volkswirt Dieter Weiss, könne selbst in relativ fortschrittlichen Ländern wie Tunesien und Marokko ein verheerendes Resultat zeitigen: den Verlust jedes zweiten Arbeitsplatzes in der international nicht wettbewerbsfähigen Klein- und Mittelindustrie.

Ein Szenario mit fatalen Konsequenzen. Die arabische Welt, so scheint es, bleibt ein Pulverfass.

(c) DIE ZEIT 27.01.2005 Nr.5

Re: Was die arabische Welt braucht, um ihren Niedergang zu stoppen #50862
29/01/05 10:38 PM
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haskamp Offline
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@ Elissa

Das immerwaehrende Problem/Frage/Zweifel: Kennt der Journalist ueberhaupt dieses Land???

Re: Was die arabische Welt braucht, um ihren Niedergang zu stoppen #50863
29/01/05 11:42 PM
29/01/05 11:42 PM
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Zina Offline OP
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Hallo Haskamp,

ich sehe das Problem nicht. Er ist Journalist und hat Leute befragt, die sich auskennen sollten (Langhammer, Entwicklungsforscher und Vize des kieler Instituts für Weltwirtschaft, V. Nienhaus, Ökonom und Präsident der Uni Marburg ...)
Wenn er ein guter Journalist ist, kann er die Aussagen dieser Fachleute gut zusammenfassen und verständlich darstellen. Dafür muss er keines der Länder kennen oder?
Ob man mit den erwähnten Fachleuten einer Meinung ist, sei dahingestellt.
Gruß


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