MUSLIMISCHER ALLTAG IN EUROPA

15. März 2005, Neue Zürcher Zeitung


Islam im neuen Habitus
Eine Studie über Muslime im öffentlichen Raum


Frauen mit Kopftuch scheinen plötzlich überall zu sein. Kaum eine politische Zeitschrift oder Illustrierte hat in den vergangenen Monaten darauf verzichtet, eine junge, verschleierte Muslimin auf dem Titelblatt abzudrucken. Gerade die Verschleierung, die doch eigentlich als Symbol für die Verbannung aus der Öffentlichkeit galt, bewirkt in Europa, dass muslimische Frauen sichtbarer sind als je zuvor. Doch sie wurden nicht nur von den Medien ans Licht gezerrt: Musliminnen und Muslime drängen verstärkt in den öffentlichen Raum, gerade indem sie ihre religiöse Identität betonen.

Stolz statt Stigma
Die Pariser Soziologin Nilüfer Göle spricht von einer «freiwilligen Übernahme stigmatisierender Symbole»: «Diese Muslime verfolgen als in modernen Gesellschaften ‹Unerwünschte› nicht eine Strategie der Assimilation, sondern sie verschärfen ihr beunruhigendes Anderssein noch.» Gemeinsam mit dem Freiburger Islamwissenschafter Ludwig Ammann hat sie den Sammelband «Islam in Sicht» über den Auftritt von Muslimen im öffentlichen Raum herausgegeben. Die Beiträge analysieren das «Coming- out» der Muslime in vier Ländern: in Frankreich, Deutschland, der strikt laizistischen Türkei und in Iran, wo die öffentliche Sphäre religiös geprägt und kontrolliert ist. Der Band ist Ergebnis eines Forschungsprojekts am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen, und der kulturwissenschaftliche Ansatz wird schon daran deutlich, dass die Untersuchungen sich auf nichtdiskursive Strategien der «Öffentlichkeitsarbeit» beschränken: Da werden neue islamische Cafés in Istanbul be- und untersucht, die Bewegung der Tabligh-Wanderprediger in Frankreich wird unter die Lupe genommen und eben das Zurschautragen des Kopftuchs analysiert.

Laut Göle sind diese Phänomene Kennzeichen einer zweiten Phase des Islamismus, einer Phase, in der für Jugendliche und Intellektuelle die islamisch-kulturelle Orientierung bedeutender geworden ist als der politische Standpunkt. Wie sich diese Gruppen öffentliche Räume aneignen, wird in den Beiträgen vortrefflich analysiert. Die Berührungspunkte mit dem politischen Islam oder die Abgrenzungen von ihm sind dagegen in der Realität eher schwammig, und auch der Sammelband trägt hier wenig zur Klarheit bei.

Inszenierte Religiosität
Daher verwundert es nicht, dass diese neuen Formen der Inszenierung der Religiosität gerade in Europa für Irritationen sorgen. Wo programmatische Schriften fehlen und zentrale Ansprechpartner schwer auszumachen sind, stösst das alteuropäische Verständnis von Öffentlichkeit an seine Grenzen. In den einleitenden theoretischen Kapiteln von Göle, Ammann und Christian Geulen wird deutlich, dass das Habermassche Konzept eines rationalen Diskurses als Kern einer modernen Öffentlichkeit heute - sei es in den europäischen Einwanderungsgesellschaften oder im islamisch geprägten Raum - unzureichend ist. Nicht etwa, weil es im Islam keine Aufklärung gegeben hat und somit auch keine rationale Öffentlichkeit, sondern weil zum einen die Formen der Aneignung öffentlicher Räume vielfältiger sind und zum anderen der Glaube nicht aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen ist. Modernisierung geht nicht automatisch mit dem Rückzug des Religiösen ins Private einher, das erleben nun auch laizistische Staaten wie Frankreich oder die Türkei.

Und dass die neuen Formen der Religiosität modern sind, daran lassen die Beiträge des Bandes keinen Zweifel: In seinem Artikel über islamische Cafés in Istanbul schreibt Ugur Kömeçoglu, dass die Betreiber dieser Treffpunkte für junge, urbane Islamisten sich bewusst von der Tradition osmanischer Kaffeehäuser abwenden. Die Kaffeehäuser (kahvehanes) waren einst der Ort für hitzige Debatten über politische und literarische Themen. Doch das ist lange her. Inzwischen seien die kahvehanes zu schmutzigen Kaschemmen verkommen, dort würden nur noch arbeitslose alte Männer Karten oder Halma spielen. Cafés im europäischen Stil dagegen signalisieren eine städtische Lebensart. Obwohl die Betreiber der neuen islamischen Cafés ihre Etablissements von den schicken westlichen Cafés absetzen wollen - Verschleierung ist erwünscht, Flirten dagegen weniger -, kommen sie nicht umhin, sich zumindest in der Namensgebung an sie anzulehnen.

Emanzipiert, aber sittsam
Diese Hybridität ist allen im Sammelband beschriebenen islamischen Bewegungen in der Türkei, in Frankreich und in Deutschland eigen: Die Muslime besinnen sich auf islamische Werte, bedienen sich aber ebenso der westlichen Varianten der Selbstdarstellung. Mit ihrem Streben nach Individualisierung brechen sie mit der Tradition, mit der Betonung ihrer Religiosität grenzen sie sich vom säkularen Mainstream ab. Für diese modernen Islamisten ist es auch kein Widerspruch, wenn Musliminnen ein modisches und auffälliges Kopftuch tragen. - Auch in Iran, wo die Öffentlichkeit religiös monopolisiert ist, bedienen sich Frauen des Islams bei der Artikulation eines neuen weiblichen Selbstverständnisses. Elham Gheytanchi porträtiert diese gleichzeitig modernen und sittsamen Frauen und beschreibt, wie sie als Romanautorinnen, durch theologische Beiträge in Frauenzeitschriften und ihr Auftreten im Film den öffentlichen Raum verändern und sich Zutritt verschaffen zu Berufen und Positionen, die ihnen zuvor aus Gründen der Tradition verwehrt waren. Gheytanchi gelingt es, die Frauen als eigenständige und selbstbewusste Akteurinnen in den Auseinandersetzungen über die Beteiligung am öffentlichen Leben spannend und differenziert darzustellen. Dagegen bleiben die anderen beiden Beiträge zu Iran blass und unpräzise: Farhad Khosroskhavar und Mahnaz Shirali scheinen in der Kontrolle durch Religionsgelehrte und Sittenwächter ein unüberwindbares Hindernis für die Entstehung einer kritischen Öffentlichkeit zu sehen.

Das grosse Verdienst von «Islam in Sicht» ist es, Formen der islamischen Religiosität im öffentlichen Raum in ihrer Vielfältigkeit und in ihren Nuancen zu verstehen und zu erklären. Andere Fragen wirft das Buch dagegen erst auf: Wie kann die Öffentlichkeit im Westen auf diesen neuen Islamismus reagieren? Und wie werden traditionelle Kräfte in den islamischen Ländern dieser neuen Herausforderung begegnen? Die kulturislamistischen Bewegungen, das belegt das Buch, sind zu bedeutend geworden, als dass sie ignoriert werden könnten.

Moritz Behrendt

Nilüfer Göle, Ludwig Ammann (Hg.): Islam in Sicht. Der Auftritt von Muslimen im öffentlichen Raum. Transcript-Verlag, Bielefeld 2004. 381 S., Fr. 46.90.


http://www.nzz.ch/dossiers/islam/europa/2005/03/15/fe/articleCLILE.html