Reise zur Seele Marokkos
Bericht über die lebendigen und farbenfrohen Traditionen des Landes zwischen Atlantik und Rif von Khalila Brandt


Die große Baraka und der Gewinn beim Besuch der Gräber der Aulija ist unter den Muslimen gut bekannt, und es ist möglich, eine Menge davon zu hören oder zu lesen. Ich habe nie wirklich greifen können, was die Wirklichkeit davon war, bis ich auf meiner letzten Reise die Gelegenheit hatte, die Erfahrung selbst zu machen. Marokko mit seiner großen islamischen Geschichte und einer starken und gesunden Tradition des Tassawuf ist ein Land voll von Gräbern von Aulija. In alten Teilen von Städten wie Fez oder Meknes sind viele Gräber berühmter Muslime wie Maulai Idris zu finden. Hat man allerdings das Glück, als Ortsfremder einen netten Führer der Gegend zu treffen, so eröffnen sich einem auch die Plätze der weniger bekannten Schaichs und Aulija. Diese befinden sich meist hinter den unwahrscheinlichsten Türen, in kleinsten Gassen oder in den Ecken versteckter Moscheen oder Zawijas.

Trotzdem hatte ich, da meine Absicht stark genug war, Erfolg, die Zawija des großen Schadhili-Schaich Sidi Ali al-Dschamal in Fez, zu erreichen. Meine Reisegefährtin und ich waren in der richtigen Gegend, aber keiner von den Leuten, die wir fragten, hatte jemals von ihm gehört. Gerade als wir uns fragten, ob wir wirklich finden würden, weswegen wir von Tanger gekommen waren, fragte uns ein Fremdenführer auf Deutsch, der gerade eine Gruppe deutscher Touristen leitet, ob er uns helfen könne. Überraschenderweise wußte er, wo sich die Zawija befand, und nahm sich - trotz der ungeduldigen Touristen - die Zeit, uns den Weg genau zu beschreiben. Am Ende des Tages sahen wir den Fremdenführer wieder, erkannten ihn aber nicht sofort, da er keine Dschalaba mehr trug. Er kam auf uns zu und fragte aufgeregt, ob wir es gefunden hätten.

Sidi Ali al-Dschamal liegt in der Zawija, in der er über viele Jahre gelebt und gelehrt hatte. Der Ort blieb unverändert in seiner Einfachheit seit seinem Tod bis heute. Er war bekannt dafür, dass er sein gesamtes Wissen an einen einzigen Mann weitergab. Dieser Mann war Maulai al-Arabi ad-Darqawi. Von ihm sollten später 40 bekannte Lehrer kommen, die über Nordafrika bis nach Malaysia gingen. Heutzutage findet man Leute der Darqawa über den gesamten Globus verteilt. Die höchst erstaunliche Sache war die fühlbare Anwesenheit der Baraka des Schaichs. Innerhalb der Zawija herrschte ein unglaubliche Ruhe und Stille, ohne dass man das Gefühl hatte, an einem alten oder gar verstaubten Ort zu sein. Im Gegenteil, man fühlte sich, als ob dieser Platz immer noch bewohnt wurde. Als wir ankamen, erteilte ein Lehrer gerade Arabischunterricht für kleine Mädchen, und man erzählte uns, dass die Leute sich immer noch jeden Donnerstag versammeln würden zum Dhikr und Studium der Werke Sidi Ali al-Dschamals. Es schien so zu sein, als sei der Schaich gerade für ein paar Minuten ausgegangen.

Uns wurde gesagt, eine der Gaben Allahs an den Schaich war es, dass immer, wenn er den Propheten, Friede sei mit ihm, erwähnte oder nur an ihn dachte, ihn in der Gemeinschaft der zehn Gefährten sah, denen der Garten versprochen wurde. Die berühmte Rabia Addawija sagte dazu einmal: "Den Gebeten der lebenden Muslime für die verstorbenen ist eine Antwort garantiert. Diese Gebete werden dem Toten mit der Bemerkung überbracht: Dies ist ein Geschenk von dem und dem an dich."

Die Zeit verging schnell an diesem besonderen Ort, plötzlich waren zwei Stunden vorüber, und wir mußten gehen. Bevor wir die Stadt verließen, wollten wir aber noch Maulai Idris, dem noblen Scharifen und Gründer von Fez, unseren Respekt erweisen. Fez war über lange Zeit die Hauptstadt Marokkos und hatte viele Jahrhunderte den Ruf als Stadt des Wissens. Sie war berühmt für die Moschee al-Qairawin, in der die Lehrer sich zu versammeln pflegten und ihren Unterricht abhielten.

Traurigerweise begann meine Erfahrung mit dem Grab von Maulai Idris damit, dass ich von einem marokkanischen Offiziellen am Eintritt gehindert wurde, der von mir verlangte, meinen Islam zu beweisen. Ich war erstaunt über diese Frage, den ich trug - für alle ersichtlich - eine Dschalaba und Kopftuch. Währenddessen war es Hunderten von Marokkanerinnen gestattet, den Ort zu betreten, obwohl sie weder entsprechenden angezogen waren, noch sich passend verhielten.

Trotz dessen gelang es uns zum Schluß noch, den schlecht gelaunten Wärter zu überzeugen, dass ich Muslima sei, und er ließt uns unter Grummeln hinein. Nach der Ruhe und Stille in der Zawija von Sidi Ali al-Dschamal kam einem dieser Ort wie eine Explosion der Unruhe vor. Unglaubliche Menschenmengen, die herumsaßen und miteinander ein Schwätzchen hielten, machten es einem schwierig, die nötige Konzentration für die Gebete und Duas aufzubringen, von denen Rabia gesprochen hatte. Interessanterweise warnte Al-Ghazali in seinem "Die Erinnerung an den Tod" vor dem losem und ungezügeltem Verhalten von Frauen an Gräbern und Friedhöfen.

Trotz der leichten Irritationen unsererseits waren wir erstaunt über die Lebendigkeit der Traditionen in Marokko, besonders unter den Frauen. Oft werden lange Entfernungen zurückgelegt, um zu den einzelnen Orten zu gelangen. Die Moschee von Maulai Abdas Salam ibn Maschisch in den abweisenden Bergen des Rif ist einer der Plätze, zu dem Muslime aus ganz Marokko anreisen. Aufgrund der Abgelegenheit des Ortes brauchen manche Menschen Tage, um dorthin zu gelangen. Obwohl wir uns von Tanger, das nur 60 Kilometer entfernt liegt, aus auf den Weg machten, benötigten wir viereinhalb Stunden.

Maulay Abdas Salam ibn Maschisch war ein Schaikh des 13. Jahrhunderts, der sich in eine Höhle der entlegensten Gipfel des Rifgebirges zurückzog. Er war bekannt für seine Nähe zu Allah und die Sorge, mit der er sich um die Armen kümmerte. Er hatte viele Anhänger, von denen der bekannteste aber sein Schüler Schaich Schadhili war. Dieser Ort ist so bekannt für seinen Segen, dass es in Tanger einen Platz gibt, wo Reisende sich sammeln. Obwohl keine offizielle Bushaltestelle, treffen sich diejenigen, die Platz im Wagen haben mit denjenigen, die dringend einen suchen. Man kann fast zu jeder Tageszeit dort auftauchen, und wird mit etwas Geduld und guter Laune sicher einen Platz finden.

Menschen quetschen sich in den Rücksitzen von Minibussen, Männer und Frauen, Alte und Junge, behalten aber immer ihren Adab und Respekt zueinander. Fremde, die sich noch nie im Leben begegnet sind, unterhalten sich, als ob sie die engsten Freunde wären. Mehr und mehr Menschen steigen von überall auf der Strecke zu und plötzlich, als wir dachten, es könne niemand mehr hinzukommen, stiegen zwei weitere Männer, gehüllt in dicke brauen Dschalabas, mit den wettergegerbten Gesichtern der Wüstenbewohnern, hinzu. Sie und ihre zwei Ziegen wurden willkommen geheißen. Es war bewegend zu sehen, dass es immer noch Reste von Fitra in dieser Welt gibt.

Als wir höher in die Berge kamen, wurde die Landschaft immer schroffer und abweisender. Als wir aus dem Minibus in den undurchdringlichen, alles umhüllenden Nebel stiegen, bekam ich eine Idee von der Außordentlichkeit dieses Mannes, der diesen Ort gewählt hatte, an dem permanent die Macht Allahs in Seiner Schöpfung zu spüren ist. Daß so viele Menschen - die meisten tagelang - zu Fuß oder auf dem Rücken eines Esels die Gipfel dieser ungastlichen Berge bestiegen haben, ist sicherlich ein Hinweis für den hohen Rang dieses Lehrers.

Die ganze Erfahrung von Maulai Abdas Salam war geprägt von der Majestät Allahs. Es gibt nichts überflüssiges, alles ist karg, es gibt nichts weiches oder bequemes. Seine Gebete und Duas muß man in der Nähe eines nebligen Abhanges machen, in dessen Nähe sich einige Männer, deren Quran-Rezitation die Luft durchdringt, Schutz an einer Wand suchen. Als wir am späten Nachmittag ins sonnige Tanger zurückkamen, hatten wir das Gefühl, eine andere Welt zu betreten.

Marokko ist ein großes Land, und mit meiner Reise habe ich nur etwas an seiner Ecke gekratzt. Dasselbe gilt auch für die Besuche an den wichtigen Plätzen des Dins in Marokko. Sie gestatteten mir aber, eine Ahnung vom Umfang einer Sache zu haben, die ich bisher noch nicht kannte. Ich habe die wichtige Lektion über das richtige Verhalten an diesen Orten gelernt, und wie fein die dünne Linie zwischen notwendiger Respektsbezeugung und übertriebener Verehrung ist. Auf der anderen Seite passiert es vielen Menschen auch, dass sie den eigentlichen Zweck ihres Besuches vergessen, und sich wie Touristen benehmen.

Tatsächlich hat der Prophet, Friede und Segen Allahs auf ihm, zu Beginn den Besuch der Gräber verboten, bis er sagte: "Ich habe euch einmal den Besuch der Gräber verboten, aber ihr solltet sie jetzt aufsuchen, denn sie erinnern euch an das Jenseits."

Dieser Begriff ist der Schlüssel und bringt den Zweck dieser Besuche ins rechte Lot, denn wie al-Ghazali sagte: "Im Allgemeinen ist der Besuch der Gräber eine erstrebenswerte Sache, da sie die Erinnerung an den Tod befördert."

Das höchste aller Gräber ist das des Gesandten Allahs, Friede sei mit ihm, und darauf Bezug nehmend, hat er eines Tages ein Dua gemacht mit der Bitte, es nicht zum Objekt der Anbetung zu machen. Nichtsdestotrotz ist der Besuch des Prophetengrabs Sunna. Mehr noch, der Prophet sagte: "Meine Fürsprache ist garantiert für all diejenigen, die mich besuchen."
Quelle:islamische-zeitung.de


Allahu alem