Distanz und Voyeurismus
Reisefotografie im Maghreb

Christiane Schulzki-Haddouti

Unser Bild von der Fremde wird von den bereits gesehenen Bildern in den Medien bestimmt. Die Reise in das Fremde ist eher eine Bestätigung des bereits Gewußten, denn eine Aneignung von Neuem. Sind wir vor Ort, so revidiert die Realität nur selten unser Bi ld. Dies zeigen zum einen private Reisefotos, zum anderen die Bildvorlagen in einschlägigen Reiseführern. Am Beispiel von Reisebildern aus dem Maghreb wird deutlich, wie fremd uns in einer christlichen Kultur aufgewachsenen Europäern die islamische Kultur ist:

Das Phänomen des Exotismus

Die Wahrnehmungsweisen jedes einzelnen sind kulturell geprägt. Wie aktiv die kollektiven Bilder sein können, hängt davon ab, in welchem Maße die Struktur der eigenen Gesellschaft bewußt ist. Sie ist die Folie, durch die die andere Gesellschaft gesehen wird . Alle Äußerungen sind eingefärbt. Gespräche, Geschriebenes und Verbildlichtes, also auch die scheinbar so "objektiven" Fotografien entstehen aus einer bestimmten kulturellen Perspektive. An ihnen sind die gesellschaftlichen Übereinkunfte ablesbar, sie zei gen, wie und was in der Welt für wahrnehmenswert erachtet wird. So wird die Rezeption des Anderen zur unfreiweilligen Selbstdarstellung der Ausgangskultur. Sozialpsychologische Faktoren des eigenen gesellschaftlichen Hintergrundes, die Lebenssituation, die Persönlichkeitsstruktur bestimmen das Abbildenswerte.
Treffen zwei Kulturen bzw. unterschiedliche Codes aufeinander, werden eigene kulturelle Werte infragegestellt. Die Reaktionen reichen von Faszination bis Ablehnung des jeweils Anderen, vom Exotismus b is Ethnozentrismus. Der Exotismus zeichnet sich durch eine besonders positive Bewertung für das jeweilige Fremde aus: Die andere Kultur und ihre Repräsentanten werden mit einer Aura des Besonderen ausgestattet. Das Fremde wird in den Zügen idealisiert, in welchen es sich vom Eigenen unterscheidet. Das Leiden an der eigenen Gesellschaft verkehrt sich in die Sehnsucht nach der Fremden.

Der romantisierte Gegenstand

zeichnet sich durch seine Realitätsferne aus. Jeder Gegenwarts- und Alltagsbezug wird ausgeklammert. Die Moderne und die implizit europäische Beeinflussung wird generell ausgeklammert:
Es gibt keine Fotos vom Mittelmeer, keine Straßenszene mit Autos, Bussen, Motorrädern, keine Spuren der europäschen Kolonialisierung, keine moderne Wirtschaftsformen. Sehenswert sind nicht die Motive eines modernen Alltags, sondern was arm ist und alt, idyllisch und herausgeputzt, rückständig und veraltet. Wenn die Moderne Beachtung findet, so als Teil der Reisedokumentation oder als Hypermoderne. Diese Bilder könnten aus dem letzten Jahrhundert stammen, wären sie nicht gestochen scharfe Farbfotos auf Plastikpapier. Seltene Portraitfotos zeigen die Menschen meist in ihrer sozialen Rolle: als Braut, als Bäuerin, als spielende Kinder, als Bettler. Sie lassen sich den bekannten Bildgenres zuordnen und befinden sich hier meist ganz in der romantischen Tradition des 19. Jahrhundert. Ein anderer Hinweis auf eine romantische, idyllisierende Motivwahl ist das häufige Fotografieren alter Männer und Kinder. Mit elf Prozent aller Bilder im Marokko-MERIAN von 1987 sind alte Männer das häufigst gezeigte Motiv, lediglich vier Prozent zeigen Kinder - obwohl mehr als die Hälfte der marokkanischen Bevölkerung jünger als zwanzig Jahre ist.
Der Tourist, der sich meistens im Urlaub befindet, um sich zu erholen, um seinen Alltagsstreß zu vergessen, lebt in einer Scheinwelt des Luxus, der Losgelöstheit. Das Gastland repräsentiert sich ihm in seinen Dienstleistungen, liegt ihm wortwörtlich zu Füßen. Wird Arbeit als solche wahrgenommen, so wird sie idyllisiert:
So fehlt bei keinem Marokkoreisenden, der Fes besuchte, das Motiv aus dem Gerberviertel. Betont wird immer wieder, wie abscheulich es dort stinke und wie verachtet die Gerber seien. Doch pittoresk ist es allemal. Zudem bietet es die Möglichkeit der Distanzierung von dem Fremden und der Identifizierung mit der eigenen Lebenswelt. In der Begegnung mit dem Fremden kreuzen sich Faszination, Bewunderung mit Erschauern, Grausen. Indem sich der Blick wie hypnotisiert auf das Andere richtet, verliert er dasBewußtsein für die eigene Realität und Involviertheit. Die früher koloniale, heute post-koloniale, weltwirtschaftliche Rolle des Heimatlandes wird aus dem touristisch-romantischen Blickfeld verdrängt, die realen Machtverhältnisse werden ausgeklammert. Doch diese in ihrer strukturellen Bedingtheit in einem Foto abzubilden, ist zugegebenermaßen etwas schwierig, will man nicht wieder in stereotype Darstellungen von jung-alt, arm-reich, antik-modern verfallen. Eine Möglichkeit bietet sich jedoch in der persönlichen Begegnung mit den Einheimischen. Meistens wird jedoch die eigene touristische Rolle im individuellen Bewußtsein ausgeklammert, obwohl sie die Beziehung zwischen dem Fremden und dem Einheimischen auf entscheidende Weise prägt. Ein Beispiel illustriert dies sehr gut:
"Eine Berberin in Ait Benhaddou, Marokko, die, sobald sie hört, daß ein Bus vorgefahren ist, ihr Spinnrad nimmt, sich an eine Ecke setzt und von den Touristen ein paar Münzen erhofft, findet Beachtung, sofern sie etwas Buntes, Volkstrachtähnliches trägt. Ist sie europäisch gekleidet, werfen die Fotografen einen bedauernden Blick auf sie: "Die ist ja normal angezogen". Sie wird nicht fotografiert und verdient nichts. Sehr schnell lernt sie, besorgt sich etwas Buntes, spinnt und kassiert. Jedoch ist sie nun nicht mehr original und ursprünglich, sondern touristisch. Ihr ist dies egal, sie verdient nun mehr, und der Tourist merkt es nicht, er hält sie im Gegenteil für das, was er 'ursprünglich', 'typisch' nennt." (Thurner)

Distanz und Voyeurismus

Bei Bildern aus einer dem Europäer verschlossenen Gesellschaft wie der marokkanischen sind oft folgende Merkmale zu beobachten:
Die Aufnahme wurde von einem erhöhten Standpunkt aus gemacht, bei Personenaufnahmen wurde ein Teleobjektiv verwendet. Es sind vor allem die Frauen, die auf diese Weise - zumeist von Männern - fotografiert werden. Sie sind verschleiert und haben dem Beobachter den Rücken zugedreht bzw. der Fotograf hat ihnen "in den Rücken geschossen". Seltene Portraits zeigen die Frauen mit einem verlegenen, abgewandtem Blick, noch seltenere einen offenen Blick, der einen persönlichen Kontakt zum Fotografen verrät. Attraktiv scheint jedoch die verschleierte Frau zu sein, die in Marokko nicht so häufig auf den Straßen wandelt, wie wir aufgrund der uns gezeigten Bilder vermuten müßten. So finden sich unter den von mir untersuchten Urlaubsbildern hauptsächlich Aufnahmen verhüllter Frauen, in den MERIAN-Heften scheint das Verhältnis ausgewogen, während in "Bucher's Marokko" ausschließlich verschleierte Frauen auftauchen. Interessanterweise werden in allen Bildbänden die Berberinnen vom Stamme der Ait Haddidou aus dem Hohen Atlas gezeigt, und dies, obwohl Frauenportraits sonst eher unüblich sind. Der Grund dafür ist in Ilmichil zu finden, wo jedes Jahr der sogenannte "Heiratsmarkt" der Ait Haddidou abgehalten wird. Zu diesem Anlaß treffen sich nicht nur Heiratswillige, sondern auch Fotografen aus aller Welt. Es werden sogar extra Hotel-Zelte aufgebaut, um die Foto-Touristen zu beherbergen. Doch diese werden dann auf den Bildern ausgespart, da dies im Widerspruch zu ihrer behaupteten Exklusivität stehen würde. Hier ist die Möglichkeit gegeben, einer exotischen Erscheinung in Marokko, der Öffentlichkeit privater Feste, relativ ungestört beizuwohnen. Normalerweise sind für den gewöhnlichen Touristen Erlebnisse in familiärer Athmosphäre ausgeschlossen, entsprechend werden dann Dienstleistende fotografiert.
In der Regel wird bei ungestellten Aufnahmen das Teleobjektiv benutzt. Es vermittelt eine Scheinnähe, die einem voyeuristischen Blick entsprungen ist. Die räumliche Distanz zwischen Fotograf und fotografiertem Objekt wird jedoch gewahrt. Das, was aufgrund gesellschaftlicher Konventionen nicht fotografiert werden darf, kann so doch noch "erlegt" werden. Ein persönlicher Kontakt findet in der Regel nicht statt; ob hierfür allein die Sprachbarriere verantwortlich ist, mag in Frage gestellt werden. Der Blick ist durch die Kamera maskiert und doch offensichtlich. Es ist ein Blick, der nicht wahrgenommen werden soll, es ist der Blick eines Fremden in eine ihm fremde Gesellschaft. Die eigenen gesellschaftlichen Konventionen fallen weg, die fremden sind weitgehend unbekannt. Sozio-psychische Tabus wie Voyeurismus, Aggressivität, Narzißmus, Exhibitionismus werden auf diese Weise scheinbarlegitimiert. Der hier offen zu Tage tretende Voyeurismus zeichnet sich durch den offenen Affront, den nicht gezollten Respekt vor dem Anderen aus. Er setzt sich aggressiv durch, indem er Intimsphäre und Freiheit mißachtet.

Distanz und Stereotypisierung

Alte Menschen, Kinder, verschleierte Frauen sind stereotype Motive aus der Bildwelt Nordafrikas, andere gängige, symbolträchtige Motive runden das touristische Panorama ab: Palmen, Sand und Dünen, die Djemma el Fna bzw. der Platz der Gehenkten in Marrakesch, Rundumsichten von Oasen und Kasbahs, Souks, Esel und Kamele als Fortbewegungsmittel, Menschengruppen.
Die Stereotypisierung wird allerorts beklagt, ist sie denn nur ein weiteres Symptom der Distanzierung. Das Unbekannte, Nicht-Alltägliche wird als Symbol und Chiffre für das Fremde wahrgenommen. Thurner sieht sie schon fast als psychisch notwendig an, wenn sie schreibt: "Da unsere Welt von Bildern überquillt, werden täglich neue verlangt, und damit sie nicht langweilen, müssen sie immer seltener, exotischer, extremer, ungewöhnlicher werden. Die Wilden werden noch wilder, die Armen ärmer, die Exotischen bunter. So spiegeln Touristenfotos gängige Sehgewohnheiten und Wahrnehmungsstereotypien wider und tragen ihrerseits zu weiterer Stereotypisierung bei."
Sie ist als Begrenzung der Vielfalt fremder Wirklichkeit zu verstehen. Das Fremde muß benannt werden, der fremde Raum wird in der Abwehr im Akt des Fotografierens angeeignet. Die Kamera wird als "Prellbock gegen das Unbekannte" (Thurner) eingesetzt. Hierbei wird oftmals unbekümmert um die Rechte der Fotografierten vorgegangen.

Voraussetzung für andere Bilder ist eine veränderte Grundhaltung, ein anderes Interesse, ein anderes Bedürfnis, um andere Bilder zu produzieren. Ein Bild, das in diese Richtung weist, ist das der zwei Jungen in der algerischen Sahara. Sie haben eben noch gespielt und blicken nun mit zwiespältigen Gefühlen in die Kamera des Fremden. Es zeigt uns die Situation des Fotografen und das der Fotografierten, es ist eindirekter Kontakt, nichts wird beschönigt.

Bilder sind der Ausdruck unseres sozio-kulturellen Systems (Bourdieu).

Literaturauswahl:

- Bourdieu, Pierre. Kult der Einheit und kultivierte Unterschiede. In: Ders. u.a.: Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie. Frankfurt/M 1983 (frz. Original 1963)
- Bucher's Marokko. Photos: Maximilien Bruggmann. Text: Christian Schwalbach. München und Luzern 1987,1988
- Enzensberger, Hans-Magnus. Eine Theorie des Tourismus. In: Tourismus. Arbeitstexte für den Unterricht. Stuttgart: Reclam 1981
- MERIAN. Marokko. 9.XVI Sept. 1963, Marokko 1.XL Jan. 1987
- Thurner, Ingrid. Grauenhaft. Ich muß ein Foto machen. Tourismus und Fotografie. Aus: Fotogeschichte, Heft 44. 1992 S. 23-44

Quelle: http://members.aol.com/InfoWelt/exot.html