kraniche


„sag mal, r. du bist doch ziemlich oft ganz schön allein, oder ?“

moritz sass neben mir auf der bank und rieb den zeigefinger seiner linken hand über das kniegelenk seines rechten beins. wenn es das tut - ich weiss es seit einiger zeit - hat moritz etwas auf dem herzen. er sagt aber nichts, reibt nur einfach über sein kniegelenk, als ob er damit seine probleme ausradieren könnte.

„du hast recht, moritz. wenn man älter wird, nimmt oft auch das alleinsein zu.“

„das muss doch echt langweilig sein !“ der druck seines fingers nahm noch zu. wenn er so weiter macht, ist ein loch in seiner hose, dachte ich...

„langweilig ist das nicht, moritz. da sind so viele erinnerungen und erlebnisse, über die jemand nachdenken kann, so viele bücher, die er noch lesen möchte...manchmal hat er auch gerade ein neues rezept entdeckt, das er nachkochen will...“

„immer allein !“ flüsterte moritz. sein finger bohrte sich jetzt zur abwechslung in sein linkes nasenloch.

ich dachte an den kranichzug, den ich vor einigen wochen beobachtet hatte. morgens flogen tausende kraniche auf die felder, um sich satt zu fressen. am abend kehrten sie auf ihre inseln im flachen wasser zurück. sie fliegen immer gemeinsam. mal sind es zehn oder fünfzehn, manchmal aber auch hunderte. sie fliegen über den himmel, und ihr anblick erinnert an eine japanische tuschzeichnung. schwarze zeichen , hingetupft auf weiss-graues papier. als sie über mir waren, hörte ich ihre schreie - sprachen sie miteinander ? gaben sie sich gegenseitig zeichen, um sich nicht zu verlieren ?

kraniche fliegen immer in einer bestimmten formation. ein vogel übernimmt die führung und die anderen schliessen sich ihm an. sie


durchpflügen den himmel wie in einem dreieck, wobei auf der einen seite des dreiecks nur wenige, auf der anderen seite aber umsomehr vögel fliegen. wird der leitvogel müde, fällt er zurück, und aus der schar setzt sich ein anderer an die spitze.

irgendwann, anfang oktober, brechen sie dann auf. zu ihrem grossen flug nach spanien und afrika. alle sind dabei, die jungen und alten, die gesunden und kranken. keiner wird zurückgelassen. aber viele werden das ziel nicht erreichen. weil sie nicht genügend kraft haben, oder weil sie krank sind...alt, oder einfach nur müde. dann lösen sie sich aus diesem magischen dreieck und fliegen ihr eigenes ziel an. ein ziel, das nur sie kennen - ach, nein. kennen tun sie es nicht. aber sie wissen die richtung, in die sie fliegen müssen. so entfernen sie sich aus der gemeinschaft. keiner ruft sie zurück.


wir wünschen uns vielleicht, dass ihr platz leer bleibt. eine lücke soll bleiben in dem kranichzug. ein leerer fleck am grauen himmel. aber da schliesst schon ein anderer vogel auf, das dreieck der kraniche ist wieder so, wie es menschen immer gesehen haben.

kraniche können nicht trauern. aber ihre schreie erinnern uns, dass wir einander rufen müssen, um uns nicht zu vergessen...

„du starrst in die luft, als wäre da was !“ moritz sah mich vorwurfsvoll an.

„da ist auch was, moritz ! auch wenn wir es nicht sehen.“

jetzt aber erinnerte ich mich an seinen finger, der nun in seiner linken hosentasche steckte.

„ moritz. möchtest du mir etwas sagen ?“

„nein, hatte ich eigentlich nicht vor.“

„um so besser. dann werde ich mal gehen.“

„warte mal einen moment, r.“

ich löste meinen blick von der kleinen wolke, die ganz allein über den himmel segelte.


„silvie hat einen anderen !“

„silvie ? deine freundin ? moritz ! wie konnte denn das passieren ?“

jetzt führte moritz seinen finger zum mund und kaute am nagel.

„weiss ich auch nicht. wir waren bei claus eingeladen, und dann habe ich mit oliver geredet, weil er mir erzählen wollte, dass er sich von sue getrennt hat...na, ja, und als ich dann wieder zu silvie zurückkam, tanzte sie mit mick und schrie mich an, ich soll sie in ruhe lassen...das ist alles...“

moritz sah mich so traurig an, dass ich am liebsten seine hand genommen hätte, um sie ganz fest zu halten.

ich tat es nicht.

„und jetzt, moritz ?“

„ich weiss es auch nicht, r. irgendwie ist da eine ganz blöde lücke in mir, so eine leere. es ist, als ob du auf einem ausflug bist : alle freunde sind um dich herum, alle sind vergnügt, und dann...plötzlich...fehlt jemand. es ist ja nicht schlimm, dass silvie jetzt mit mick zusammen ist. das werde ich schon überstehen. aber dass ich silvie jetzt nicht mehr sehe, weil sie nicht mehr mit mir sprechen will, das ist schlimm...“

jetzt ist da wieder das magische dreieck der kraniche. auch eine lücke sehe ich. aber schon schiesst ein vogel in diese leere, und dann ist alles wie zuvor...

„dann, moritz, wird silvie ihr eigenes ziel suchen müssen.“

„ja, ja, rede du nur. du weisst ja auf alles eine antwort. verkrieche dich doch in deinen erinnerungen, deinen büchern und kochrezepten...ich wusste ja gleich, dass ich mit dir über silvie nicht reden kann.“

jetzt flog ein schwarm wildgänse über unsere köpfe hinweg. moritz sah ihm nach und seufzte :
„mit denen mitfliegen, einfach nur fortfliegen...das wärs.“

ich aber beschloss, moritz im nächsten oktober die kraniche zu zeigen - vielleicht sind ihre schreie ja doch der ruf nach all denen, die ihren eigenen zielen folgen, und nur für den verloren, der es nicht wagt, mit einem kräftigen flügelschlag eine lücke zu füllen, die immer da war, immer da sein wird. aber kraniche folgen nicht ihrem herzen, sondern...

...dem magnetfeld der erde.