Extra für Anna's Sohn heute fertiggeworden:Wandernde Komödianten

Sie kamen durch die Tür und stellten sich in einem Halbkreis vor den Soldaten des französischen Postens auf. Sie waren eine Gruppe von zehn Komödianten aus der Stadt Haid Hassan, wo die violetten Gipfel der Salzberge in den Himmel ragen.
Ihre Gruppe bestand aus einem Tamtamspieler, einigen Kindern, mehreren Affen, einem Flötenspieler und einem Blinden, der auf einem räudigen Eselchen ritt. Sie erfüllten sogleich die Station mit ihrer Musik und ihren Gesängen. Beim Anblick des Tamtam wurden die Soldaten von Erinnerungen an gesellige Abende im Senegal heimgesucht.
Der Zauber ihrer Träume wurde durch ein plötzliches Schweigen unterbrochen, mit dem die Komödianten die Offiziere begrüßten, die gerade den Raum betraten, um sich zu ihnen zu gesellen. Mit zackiger Bewegung standen die Soldaten auf und grüßten die Offiziere, indem sie ihre Rechte an ihrer Mütze hielten. Ihr Chef, ein Hauptmann, lud sie ein, Platz zu nehmen und setzte sich leutselig lächelnd zu ihnen.
«Zeig uns deine Kunst!» forderte er den Tamtamspieler auf, einen Araber mit Samtaugen, der seinen Bart wie einen Sturmriemen als schmales Band um das Kinn trug. Er gab ein Zeichen, und während er auf dem Tamtam spielte, besang der Blinde den Krieg. Zunächst war es nur ein unverständliches Murmeln. Dann beschleunigte sich das Tempo der Musik, und seine Stimme wurde immer lauter. Er sang von langen Märschen, von Schützenfeuern und Schießereien und berichtete schließlich von einem Sturmangriff. Inmitten der bestürzenden, schreckensvollen Visionen, die der begabte Tamtamspieler in den Zuhörern hervorzurufen verstand, mimte der Blinde wilde Beschimpfungen und Beleidigungen, die unvermittelt in lautes Jubelgeschrei und frohen Siegestaumel umschlugen.
Dann inszenierte die Gruppe - untermalt von den Rhythmen des Tamtamspielers - einen Überfall auf ein Lager. Schweigend krochen sie wie Reptilien über den harten Boden. Das Klopfen des Tamtam begleitete ihr Keuchen und Schnaufen, ihre rasende Wut und ihre tolle Freude. Der Flötenspieler spielte mit geschlossenen Augen die alten Weisen der blutigen Vergangenheit Marokkos.
Der Abendhimmel war blutrot. Aus der Ferne hörte man das Gebell von Hunden, dann wurde es wieder ruhig, und man vernahm nichts als das Atmen der zweihundert Männer, die erstaunt und ergriffen das Geschehen verfolgten. Nun begann der Blinde, die Epoche der Raubritter und Plünderer zu vergegenwärtigen. Von seinen gespannten Zuhörern ließ er die Minarette erstehen, deren Spitzen von blutüberströmten Köpfen gekrönt waren. Dann erzählte er von einem Abenteuer der Barbaresken. Sie waren mit einer kostbaren Beute von der Küste zurückgekehrt, mit einer jungen Christin, die sie in der Nähe von Salé gefangengenommen hatten.
Er beschrieb die junge Frau mit den Worten und Bildern eines Dichters, indem er ihre Gestalt in die Luft malte. Dann erzählte er, wie sie in den Harem eines Scheichs eingeschlossen wurde. Feinfühlend beschrieb er die Qualen der jungen Frau, die zu einer Sklavin geworden war. Während das Tamtam nur noch ganz gedämpft erklang und die Abenddämmerung der Nacht Platz machte, sang der Blinde von ihrer tragischen Flucht. Ihr war es gelungen, dem Harem zu entkommen, aber erschöpft von den Entbehrungen und aufgezehrt von der brennenden Sonne, konnte sie nicht mehr weit gehen. – Alle hörten dem blinden Sänger ergriffen zu. Da deutete er mit der Hand auf etwas und sagte: «Hier starb sie! Genau an diesem Platz, wo sich dein Posten befindet, Hauptmann!»
Der Hauptmann zuckte zusammen.
«Sag mir den Namen deines Postens auf arabisch», forderte ihn der Blinde auf.
«Tissili n' roumit!» antwortete der Hauptmann.
«Das bedeutet in deiner Sprache: der Stein der Christin», erklärte der Blinde. «Der Stein war damals noch eine Mauer, und ein Teil der Mauer existiert bis heute.»
Die Männer schauten alle wie gebannt auf den Rest einer alten Mauer aus weichen löchrigen Steinen.
«Nicht wahr, ihr müßt zugeben daß sie noch existiert», fuhr der Blinde fort, «und sie wird bis ans Ende der Tage existieren. So steht es geschrieben! Als sie starb, weissagte nämlich ein Marabout, daß nach vielen Jahrzehnten Christen an diesen Ort zurückkehren werden. Darum hat Morhand jeden Widerstand für unnötig erachtet, als ihr mit euren Gewehren und Kanonen hierherkamt, denn er wußte, daß sich die Weissagung erfüllen mußte. Doch hör zu, Hauptmann! Es gibt noch eine andere Weissagung, die ich dir bis jetzt vorenthalten habe... »
Das Tamtam unterbrach ihn mit einem langen Trommelwirbel, der die Soldaten hochfahren ließ. Die Dämmerung hatte sich hinter die Mauerzinnen entfernt.
«Sie wird eines Tages wiederkommen!»
«Wer?»
«Die Christin!»
«Du redest töricht, alter Zauberer!»
«Mach dich nicht lustig über uns, Hauptmann! Dieses Land hat noch Geister und Tote, die zurückkommen, wohlwollende und unheilbringende Dschinnen, und sie leben mitten unter uns. Glaub es mir, Hauptmann, und respektiere sie. Und was die Weissagung des Marabout betrifft, so besagt sie, daß zurückkommen wird und den Christen erscheinen wird, jedesmal wenn diese von einer Gefahr bedroht werden.
Warst du nun zufrieden mit mir, so möge deine Gabe großzügig sein!» Dies sagte er, erhob sich und begab sich tastend an seinen Platz, wo sein Esel vor sich hinschlief. Die Münzen fielen in das umgedrehte Tamtam, dann sammelte sich die Gruppe der Komödianten und verließ den Posten.
Die ersten Sterne erschienen am Himmel, und ein jeder zog sich in seine Baracke zurück. Da hörte man plötzlich einen der senegalischen Wachposten schreien: «Halt, stehen bleiben!»
Ein Schuß folgte, der die Stille der Nacht durchbohrte. Die Soldaten rannten in den Hof und stürzten an die Schießscharten. «Was war los?» fragte man den senegalischen Wachposten, der den Schuß abgegeben hatte.
«Da war eine weiße Frau, ging auf und ab», antwortete er.
«Du bist betrunken!» schrie ihn der Hauptmann an.
«Ich bin nicht betrunken, ich sah eine weiße Frau!» erwiderte er, und ein anderer Wachposten bestätigte seine Aussage.
Die Wachposten wurden ausgewechselt, die Nacht verdichtete sich, und die Zeit verging.
Plötzlich wurden wieder alle durch einen Schuß alarmiert. Der neue Wachposten antwortete auf die Frage des Hauptmanns: «Ich sah jemanden an den Wall kommen, eine Frau in weißem Gewand.»
«Blödsinn, der Blinde hat euch alle verhext», ärgerte sich der Hauptmann.
Wieder wurde eine Patrouille ausgeschickt; und wieder kam sie ergebnislos zurück.
Gegen Morgen ging ein leichtes Zittern durch die Alarmglocken. Den Hals gereckt und das Gewehr schußbereit verdoppelten die Wachposten ihre Aufmerksamkeit. Aber es war nur ein leichter Wind, dessen frische Brise die Alarmglocken fast unmerkbar bewegte, zu einem ganz leisen, verhaltenen Geräusch...wie einem Rascheln, einem Säuseln...
Da erklang es plötzlich wie ein Heulen und Tosen des Sturmes. Wilde Schläge auf dem Tamtam wurden hörbar, die den Rhythmen glichen, mit denen die Komödianten den Überfall auf ein Lager inszeniert hatten. Ihr Echo hallte von allen Seiten. Schüsse prallten an die Mauer, und die Zinnen hoben sich vom roten Schein der Flammen ab.
«Die Schleus... die Schleus...» riefen die Offiziere.
Dank der Ereignisse dieser Nacht sind die Soldaten des Postens sofort zur Verteidigung bereit. Auf beiden Seiten wird mit angespannten Nerven gekämpft. Als der Tag anbricht, sind die Angreifer unter großen Verlusten zurückgeschlagen. Überall vor der Befestigungsmauer liegen scharenweise die Toten der Schleus.
Ein seltsame Ergriffenheit erfaßt die Offiziere, denn jetzt erinnern sie sich an die Erzählung des Blinden. Die Magie dieses Landes bemächtigt sich ihrer Vorstellungswelt. Jeder von ihnen hat die Worte des blinden Zauberers noch in den Ohren, doch keiner wagt es, von der Christin zu sprechen, die zurückgekehrt ist, um sie zu warnen und zu retten. Aber aus ihren Herzen steigt ein gläubiges Gebet der Dankbarkeit.

Aus: J. Renaud / T. Essafi: La Sorcière d' Eméraude. Paris 1929


Wie ein Dieb schlich der Verstand herein und saß zwischen den Liebenden, erpicht darauf, ihnen Ratschläge zu geben. Aber sie waren unwillig. So verbeugte sich der Verstand und ging seiner Wege.
* Djelaleddin Rumi *