Afrikas erster TGV

Mit Sonnenenergie und 320 Kilometern pro Stunde wird er durchs Wüstenreich flitzen. In Afrika wird die erste Strecke für Hochgeschwindigkeitszüge gebaut. Im Juni erfolgt der Spatenstich für die TGV-Linie von Tanger nach Casablanca. Hightech im Märchenland Marokko.

Der marokkanische Zugverkehr boomt. Das Passagiervolumen steigt jedes Jahr um bis zu 15 Prozent. Doch die Fahrten zwischen den Traumstädten Tanger, Rabat, Casablanca und Fès sind mühsam. Auch die Millionen Touristen, die das Maghreb-Land jedes Jahr besuchen, wissen das. Jetzt wird alles schneller - und vielleicht etwas weniger romantisch.
Der Bau beginnt im Norden in der Hafenstadt Tanger. Ab 2015 wird der Train à grande vitesse (TGV) auf einem neuen Trassee von Tanger nach Kenitra sausen. Von dort wird er auf der ausgebauten alten Linie nach Rabat fahren. In einer zweiten Phase, nach 2015, wird die TGV-Linie von Kenitra nach Casablanca gebaut. Die Fahrt von Tanger nach Casablanca wird dann eine Stunde und dreissig Minuten dauern. Zurzeit dauert sie vier bis fünf Mal länger.
Später, nach dem Jahr 2030, soll die TGV-Linie via Marrakesch bis nach Agadir im Süden des Landes verlängert werden. Auch eine Achse nach Fès ist vorgesehen.

Planungsarbeiten für den marokkanischen TGV hatten schon 2003 begonnen. Doch möglich macht dieses Wunder Frankreich, die ehemalige Protektionsmacht. Die beiden Staaten unterhalten enge Wirtschaftsbeziehungen. Staatspräsident Nicolas Sarkozy besuchte vor zwei Jahren das Land und verlieh der TGV-Idee Flügel – nicht ganz uneigennützig. Die französische Industrie profitiert von dem Deal.
Der jetzt gebaute TGV ist nicht das einzige technische Wunder, das die Marokkaner entzückt. In der Stadt Ain Beni Mathar, südlich von Oujda, nimmt jetzt ein revolutionäres Solar-Hybrid-Kraftwerk die Stromproduktion auf – weltweit die erste Anlage dieser Art. Und mit dem Sonnenstrom, der dort produziert wird, soll das TGV-Netz – zum Teil - gespeist werden.
Die Sonnenkollektoren haben eine Fläche von 183 000 Quadratmetern: sie sind einen Kilometer lang und 183 Meter breit. Neben den Kollektoren kommen zwei Gas- und eine Dampfturbine zum Einsatz. Das Werk wird pro Jahr 40 GWh Strom produzieren. Das Erdgas kommt aus dem nahen Algerien. Wasser zur Kühlung und Reinigung der Kollektoren gibt es genügend – und die Sonne brennt zwölf Stunden im Tag. Mit diesem kombinierten Thermo-Solar-Werk kann laut Angaben des marokkanischen Energieministers pro Jahr eine Million Tonnen Öl gespart werden. Der Strom wird dadurch verbilligt, was dem künftigen TGV zugutekommt.
Das erste TGV-Teilstück von Tanger nach Kenitra und Rabat kostet 1,7 Milliarden Euro. Der Bau einer TGV-Linie ist 30 Prozent teurer als der Bau einer klassischen Eisenbahnlinie. Ein Ausbau des bisherigen Schienennetzes für schnelle Fahrten kommt meist nicht in Frage: es braucht neue Trassees, neue Linien. Die Marokkaner bezahlen gut eine halbe Milliarde. Den Rest bringen Frankreich, die EU und die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung auf. Inbegriffen in diesem Preis sind 18 Doppelstock-Züge, die je 500 Passagieren Platz bieten, geliefert von der französischen Firma Alstom.
Konkurrenz für die Kanarischen Inseln

In den Neunzigerjahren schwächelte der Tourismus in Marokko. Doch seit König Mohammed VI regiert, ist vieles anders. Marokko zählt heute etwa drei Millionen ausländische Touristen; dazu kommen etwa zwei Millionen Marokkaner, die im Ausland leben und das Land jährlich besuchen. Überall entstehen jetzt neue Ferienhochburgen. Fast drei Milliarden Euro steckt das Königreich in den Tourismus. Gefördert wird vor allem der Billig- und Mittelklasse-Tourismus. Eine Ausnahme macht die leicht versnobte Wüstenstadt Marrakesch. Sie ist seit jeher ein Mekka der VIPs und wish-to-be-VIPs. Der Tourismus-Minister gibt sich unbescheiden. „Wir wollen bald zu den 20 wichtigsten Feriendestinationen der Welt gehören und jährlich zehn Millionen Touristen empfangen“. Vor allem den Kanarischen Inseln will das Königreich mit seinen 3500 Kilometer langen Stränden und seiner aufregenden Kultur Konkurrenz machen. Dazu braucht es nicht nur stabile politische Verhältnisse und keinen Terrorismus. Dazu braucht es auch eine gut funktionierende Eisenbahn, denn mehrere hunderttausend Touristen fahren mit dem Zug durchs Land.
Im Gegensatz zu vielen andern afrikanischen Staaten hat die Eisenbahn in Marokko Tradition. Das marokkanische Schienennetz ist 1907 Kilometer lang. Das Bedürfnis für einen TGV ist da. Die Zahl der Zugpassagiere ist auf 30 Millionen pro Jahr gestiegen.
Die Promotoren des marokkanischen Hochgeschwindigkeitszuges führen auch sozio-ökonomische Vorteile ins Feld: Millionen von Arbeitsstunden werden wegen der kürzeren Reisezeit gewonnen. Die CO2-Emmissionen werden reduziert. Die Spitalkosten wegen ausbleibender Auto-Unfälle sinken. Errechnet wird für die Linie Tanger-Casablanca eine sozio-ökonomische Rentabilität von 12,6 Prozent. Das ist doppelt bis drei Mal so viel wie in Frankreich. Allein auf der Linie Tanger-Casablanca rechnet man mit einer Vervierfachung des Passagieraufkommens. Im Gegensatz zur sozio-ökonomischen Rentabilität sieht die finanzielle Rentabilität allerdings anders aus: Sie wird mehrere Jahre auf sich warten lassen; das ist überall der Fall.

Doch im Gegensatz zu anderen, auch europäischen Staaten (z.B. Italien), will Marokko nicht alles Geld nur in die Hightech-Linien stecken. Die alten Strecken für den wichtigen Regionalverkehr sollen weiterhin gepflegt und modernisiert werden. In sie sollen jetzt 1,15 Milliarden Euro investiert werden. So werden jetzt für den traditionellen Verkehr 20 Exemplare der allerneuesten von Alstom im Elsass gebauten Lokomotiven Prima II in Betrieb genommen. Ihr Preis: 74 Millionen Euro. Sie sollen auf dem ganzen Netz für den Güter- und den Personenverkehr eingesetzt werden. Am 27. November letzten Jahres hat König Mohammed VI den neuen Bahnhof von Fès eingeweiht. Stargast war – neben dem König – das erste Exemplar der neuen Lokomotiven.
Die fehlende Infrastruktur ist einer der Hauptgründe für die mangelnde Entwicklung afrikanischer Staaten. In vielen Ländern gibt es nur ein schlecht funktionierendes oder gar kein Eisenbahnnetz. Die Promotoren des TGV hoffen, dass Marokko jetzt für viele Staaten ein Vorbild wird. „Warum“, sagen sie, „überspringen die schlecht entwickelten Länder nicht eine Entwicklungsstufe: von „gar keine Eisenbahn“ direkt zum TGV? Schon einmal hätten die Afrikaner eine solche Stufe übersprungen: von „gar kein Telefon“ direkt bis zum Handy. Man darf ja träumen.

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