An der Grenze zwischen Marokko und Spanien prallen Islam und Christentum, Elend und Wohlstand aufeinander

Von Michael Schwelien- Die Zeit



Genau gegenüber der Alhambra steht die Mezquita Mayor, die neue Große Moschee von Granada. Sie wurde im vergangenen Sommer eröffnet. Am Tor bietet ein junger Mann gekräuterte Limonade an. Zypressen und Zitronen duften. Der Garten ist jedem zugänglich, die Moschee nur Muslimen. „Würden Sie mit uns über die Stimmung nach dem 11. März sprechen?“, fragen wir einen Alten am Tor? „Sie meinen nach dem barbarischen Anschlag in Madrid?“, erwidert der Alte ohne Umschweife und greift zum Telefon. Er wählt eine Nummer, dann reicht er das Telefon weiter. Ein Englisch sprechender Mann meldet sich: „Kommen Sie herunter zum islamischen Zentrum, die Stufen links von der Moschee, klopfen Sie an die Tür.“

Er trägt einen kurz geschorenen Vollbart und ist modisch-westlich gekleidet. Er stellt sich als Yahya vor, ist offensichtlich befugt, für die Moschee zu sprechen. Der Mann ist, wie er offenbart, ein Konvertit, ein Engländer, der als Jugendlicher Muslim wurde. Zunächst ist er ungehalten. Es ist Freitag, der Tag des Gebets. Er hätte gern vorher ein Fax mit den Fragen bekommen: „Was glauben Sie, wie die Reporter über uns herfallen? Sie stürmen herein und fragen, ob Osama bin Laden die Moschee finanziert hat.“ Doch dann bittet er, Platz zu nehmen auf einer grünen Sitzgruppe unter großen Fotos von Mekka.

Yahya spricht nun ohne Ende, nur unterbrochen von Telefonaten und kurzen Blicken auf die Monitore der Computer im Nebenraum. „Es gibt gar keinen Clash der Kulturen“, sagt er, „die europäische Kultur wurde von den Muslimen geschaffen.“ Wie konnten die Muslime Andalusien damals so schnell erobern, fragt er, um selber zu antworten: Sie kamen nicht mit dem Schwert, sie brachten ehrlichen Handel, Wissen, Gerechtigkeit. Wie ein Prediger duldet er keinen Widerspruch. Irgendwann lässt er einfließen, die Täter vom 11. März seien keine Muslime, auch wenn sie arabische Namen tragen. Er sagt: „They are not us“ – das sind nicht wir. Aber so, wie er die Überlegenheit des Islams behauptet und die westlichen Gesellschaften als verkommen schildert, so argumentieren auch jene, die den Terror gutheißen.

Er sei früher schon einmal hier an dieser für die Muslime so symbolträchtigen Stätte tätig gewesen, so viel will Yahya verraten, 1987, also in seinem 17. Lebensjahr, dem Jahr, in dem er Muslim wurde. Und im vergangenen Jahr wurde er wieder hierher gerufen, lässt der heute 34-jährige Vater von drei Kindern wissen. Er sagt jedoch nicht, wer ihn rief, sagt nicht, weshalb. Yahya übergeht alle Nachfragen. Bei jedem Einwand holt er zum großen Bogen aus. Alle Kämpfe, alle Konflikte von heute, so belehrt er stattdessen, seien angezettelt worden, „um den Dollar zu stabilisieren“. „Zins und die von den Banken erzeugte Gier zu kaufen, kaufen, kaufen“ – das seien die Wurzeln allen Übels, das zerstöre die Familien.

Er ereifert sich leicht, wiederholt sich häufig: „Die Gesellschaft hier ist verkommen. Drogen, Alkohol, Teenager-Schwangerschaften, alles nimmt zu. Tag für Tag werden die Gesetze laxer. Alles ist erlaubt, in dieser dekadenten Gesellschaft. Die schlimmsten Verbrechen werden nicht geahndet.“

Einmal gelingt es, den jungen Gelehrten für einen Augenblick zu unterbrechen, ihn zu fragen, ob der Anblick von knapp bekleideten jungen Frauen auch seine Augen beleidige. Da hat er eine tolerante Erwiderung parat: „Wir haben kein Recht, beleidigt zu sein, denn dies ist keine islamische Gesellschaft.“ Aber er lässt den Umkehrschluss zu: Seine Frau nämlich, erklärt er, verhülle sich, um nicht die Blicke der Männer auf sich zu ziehen. „Muslime“, sagt er, „kümmern sich umeinander.“

Warum, das will man am Ende von ihm wissen, haben die Muslime seinerzeit Al-Andalus wieder verloren? Seine knappe Antwort, bei der wieder einmal sein wissendes Lächeln die Lippen umspielt: „Sie scheiterten, weil sie dekadent waren.“


Diese Reise führt zu Grenzen, an der die Kulturen härter aufeinander prallen als anderswo. Die Grenzen zwischen Europa und Afrika, zwischen Christentum und Islam, zwischen Moderne und Mittelalter, zwischen Rechtsstaat und Polizeistaat. Die geografische Grenze verläuft durch die Straße von Gibraltar, an der engsten Stelle weniger als 15 Kilometer breit.

711 kreuzte sie der arabische Feldherr Tarik Ibn Sijad. Binnen dreier Jahre konnten sich die Mauren fast die gesamte iberische Halbinsel einverleiben. Sie nannten die Provinz Al-Andalus, was vermutlich das Land der Vandalen hieß. Beinahe 800 Jahre später, am 2. Januar 1492, zogen die katholischen Könige, Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragón, in der Alhambra von Granada ein. Die Reconquista, die Wiedereroberung, war vollendet.

Etwas mehr als 500 Jahre danach wiederum, im Oktober 2001, rechtfertigte Osama bin Laden in einer von al-Dschasira ausgestrahlten Video-Botschaft die Anschläge vom 11. September. Der Pate des Terrors machte dabei eine Anspielung auf Andalusien, deren Sinn sich etlichen Übersetzern anscheinend nicht erschloss. In der Wiedergabe des Texts in der New York Times, basierend auf einer Übersetzung der Nachrichtenagentur Reuters, fehlt sie ganz. Bin Laden sagte: „Die ganze Welt soll wissen, wir werden es nie hinnehmen, dass sich die Tragödie von Andalusien in Palästina wiederholt.“

Damit muss bin Laden die Wiedereroberung Spaniens durch die Christen, die sich über Jahrhunderte ziehende Verdrängung der Muslime, gemeint haben, die im 11. Jahrhundert begann. In seiner Denkweise haben die Kreuzzüge, deren ausdrückliches Ziel nicht allein die Einnahme Jerusalems, sondern stets auch die Rückeroberung Andalusiens war, dazu geführt, dass eine „fremde“ Gesellschaft sich das Juwel des Islams einverleibte. So ist der Sinn der Anschläge von Madrid nicht nur der Abzug der spanischen Truppen aus dem Irak, deren Camp übrigens Al-Andalus hieß, wie auch die Truppe Mata Moros, „Schlagt die Mauren tot“, genannt wurde. Ein weiteres Ziel der Terroristen ist die „Befreiung“ ihres Andalusiens, ähnlich der „Befreiung“ Palästinas.

Inzwischen hat sich auch herausgestellt, dass die große Mehrheit der mutmaßlichen Täter von Madrid Marokkaner sind, viele kommen aus Tanger. Und es ist zutage gekommen, dass die Hintermänner dieselben sind, die auch die Anschläge in Casablanca am 16. Mai vergangenen Jahres planten, bei dem die Casa de España das Hauptziel war. Damals mag noch mancher geglaubt haben, Armut sei schuld, weil die 14 Selbstmordattentäter von Casablanca alle aus dem Slum Sidi Mounem stammten. Doch nun weiß man, dass die apokalyptischen Reiter aus besseren Verhältnissen kommen. Die Täter von Madrid und ihre Hintermänner sind sozusagen schon „Europäer“ gewesen, hatten sich scheinbar in Spanien integriert, bevor sie Islamisten wurden. Wie Rattenfänger hatten sie die jungen Mörder indes gezielt in den Slums rekrutiert, mit der Gewissheit, wer in einer solchen Hölle lebe, sei zu allem bereit.


Im Atocha-Bahnhof in Madrid laufen nicht nur die Vorortzüge ein. Aus der Halle, die am 11. März um Sekunden verfehlt wurde, fahren auch die Hochgeschwindigkeitszüge nach Andalusien ab. Wenige Wochen nach dem 11. März wurde eine Einkaufstüte mit zwölf Kilo Sprengstoff auf diese Gleisstrecke gelegt, symbolträchtig in der Nähe von Toledo, wo die Rückeroberung Südspaniens ihren Ausgang nahm. Es sollten nicht nur Züge getroffen, es sollte die Nabelschnur nach Andalusien durchschnitten und die Geschichte rückgängig gemacht werden.

In Sevilla, wo der Zug endet, ist Fiesta, Frühjahrsfest mit Corrida, zwei Wochen lang jeden Abend Stierkampf. An diesem Abend sticht der Matador El Cid zwei Stiere ab. Der alternde El Cid – der Name kommt von dem arabischen Titel Lord – tötet die Tiere mit Routine, aber ohne Eleganz. Mitreißenden Beifall erheischt nur ein Stier, der das Pferd eines Picadors aufspießt. In den Tapa-Bars um die Arena herrscht nach dem Kampf ein anderes Gesprächsthema vor. Heute wurde die neue Regierung Andalusiens vorgestellt. Ein historisches Ereignis in einer „Macho-Gesellschaft“: Dem Kabinett gehören mehr Frauen an als Männer.

Eine weitere Entscheidung von großer Tragweite ist ebenfalls Gesprächsthema. Die Muslime von Córdoba hatten beantragt, die prächtige Mezquita-Kathedrale wieder als Gebetshaus nutzen zu dürfen. Die Mezquita war einst die Hauptmoschee des westlichen Islams. Erzbischof Michael Fitzgerald, der Präsident des Päpstlichen Rats für den Interreligiösen Dialog, aber wehrte unmissverständlich ab: Die islamische Gemeinschaft solle „die Geschichte akzeptieren“ und „nicht Rache suchen“. In den Tapa-Bars nahe der Plaza de Torros nicken die Leute mit den Köpfen, den abfälligen Ausdruck moros für Mauren benutzend : „Wir werden den moros doch nicht auch noch unsere Kirchen überlassen.“

In der Kapelle der Kathedrale von Granada ruhen die katholischen Könige Ferdinand II. und Isabella I. Die gemeinsame Grabinschrift preist: „Mahometice Secte Prostratores Et Heretice Pervicacie Extinctores“ – „Vernichter der mohammedanischen Sekte und Auslöscher der ketzerischen Falschheit“.


Am Petit Socco, dem kleinen Platz an der Medina in Tanger, stehen die illegalen Migranten herum. Keine Schwarzafrikaner, sondern junge Marokkaner. Überall in Tanger treiben sich junge Männer herum, die nichts zu tun haben. Bestenfalls reicht das Geld, um sich einen Tee im Café zu bestellen. Da sitzen sie dann, die Blicke starr auf den Fernseher gerichtet. Sitzen Stunden um Stunden und sehen: al-Dschasira für die Politik; TV España für den Fußball, wobei alle Real Madrid zujubeln.

Diejenigen, die auf dem Petit Socco herumstehen, wollen so schnell wie möglich weg nach Europa. Wenn man mit ihnen ins Gespräch kommt, fällt auf, dass immer ganze Gruppen aus ein und demselben Ort stammen – die Schlepperbanden arbeiten offenkundig Dorf für Dorf ab. Seit Jahren geht das so – allen Versprechungen des marokkanischen Staats zum Trotz, den Flüchtlingsstrom schon auf dieser Seite der Straße von Gibraltar einzudämmen.

Überraschend ist in dieser Stadt, die El País den „Vorposten des Islams“ und Le Monde die „Terrorfabrik“ nennt, in der die meisten Frauen nur verschleiert auf die Straße gehen, dass auf einmal sechs junge Frauen den Fremden anhalten. Schülerinnen offenbar, vier von ihnen tragen Kopftücher, die beiden anderen sind ebenfalls züchtig gekleidet. Sie kichern, wenden sich wieder ab, dann fasst eine sich ein Herz: „Sagen Sie bitte, Monsieur, was muss man anstellen, um einen Europäer zu heiraten?“


Um den Grand Socco, den großen Platz, stehen ebenfalls viele Männer herum, Männer in dunklen Anzügen oder Dschellabas, Geheimpolizisten. Hier haben sie viel zu schützen. Oberhalb befindet sich die spanische Kathedrale und die amerikanische Gesandtschaft, daneben steht das Hotel El Minzah, gegenüber liegt das spanische Kulturinstitut Instituto Cervantes. Niemand bleibt hier unbeobachtet. Die Sûreté ist omnipräsent. Nach den Anschlägen in Casablanca vor einem Jahr wurde binnen Minuten der Inhaber des Restaurants Les Citoyens de Tanger, der Alkohol ausschenkt und zumeist Ausländer bewirtet, von einem befreundeten Geheimdienstler gewarnt: „Schließ ab und lass niemanden hinein, den du nicht kennst.“

Auf einer Baustelle gegenüber dem Hotel schleppen kleine Jungs Steine, rühren den Mörtel an. Höchstens zwölf Jahre dürften sie alt sein. Die Polizisten stört das nicht. Die Männer, die im Grand Café de Paris sitzen, auch nicht. Einer, der gerade seinen neuen, silbernen BMW an der Straße abgestellt hat, äußert sich missbilligend, aber erst auf mehrmalige Nachfrage: „Nein, solche Kinderarbeit ist nicht in Ordnung. Wenn sie im Café oder auf den Feldern der Familie helfen, gut, das geht. Aber auf dem Bau, nein.“ Um nach einigem Überlegen zu bedenken zu geben: „Andererseits lernen sie etwas. Und verdienen ein wenig.“

Im Mittleren Osten und Nordafrika müssen rund 13,5 Millionen Kinder zwischen fünf und 14 Jahren, 15 Prozent der Bevölkerung, harte körperliche Arbeit leisten. Dieses Elend schafft Generationen junger Menschen, die nichts zu verlieren haben, die alles tun würden, um in das reiche Europa zu kommen. Und wenn sie dann dort, warum auch immer, enttäuscht werden, schlägt die Hoffnung leicht in blinden Hass um.


In den Garten des Minzah-Hotels dringt diese Welt nicht ein. Hier sonnen sich knapp außer Blickweite der Einheimischen europäische Touristen am Pool. Die Barmänner, das beschwört ein französischer Fernsehreporter, der sich ein Haschischpfeifchen entzündet, mixen den besten Whiskey Sour der Welt – und bestellt seinen dritten, es ist ja schon Mittag. In diese friedliche Oase, in die weder Lärm noch Dreck, weder Migranten noch Terroristen gelangen, kommt Mohammed Abouabdillah zum Gespräch. Der Chefredakteur des Journal de Tanger ist so etwas wie eine offizielle Stimme. Würde in seinem Blatt etwas stehen, was König Mohammed VI. nicht lesen will, dann würde die Redaktion auf der Stelle geschlossen.

Also freut sich der Journalist Abouabdillah, der trotz der Hitze weder sein Tweed-Jackett ablegt noch seine Seidenkrawatte lockert, über den „radikalen Wechsel“ bei der Regierung in Madrid und die „angenehme Überraschung“, dass der neue spanische Ministerpräsident José Zapatero, am zweiten Tag im Amt, schon nach Marokko reiste. Abouabdillah meint allerdings, es sei nur „Zufall“ gewesen, dass so viele der Täter von Madrid Marokkaner waren. Wie auch immer: „Nun haben sich unsere Regierungen entschieden, gemeinsam gegen den Terrorismus zu kämpfen.“

Abouabdillah ist gut informiert, er scheint alles zu wissen und jeden zu kennen. Den Namen Benjaich will er indes noch nie gehört haben. Das verwundert sehr. Über die Brüder Benjaich ist viel in den unterschiedlichsten Zeitungen geschrieben worden. Die New York Times erwähnte die Brüder in einem Artikel bald nach dem 11. März: „Die marokkanischen Ermittler stießen auf Mr. Zougam später, als sie den Benjaich-Brüdern nachspürten, drei marokkanischen Militanten, die sich in verschiedenen muslimischen Kämpfen geschlagen hatten.“ Dieser Zougam – gemeint ist Jamal Zougam, der Inhaber des berüchtigten Telefonladens in Madrid – war als erste Schlüsselfigur der Attentate vom 11. März verhaftet worden.

Im April 2003 soll er sich mit Abdel Asis Benjaich in Tanger getroffen haben. Der wiederum ist ein eingebürgerter Franzose, der auf Bitte der Marokkaner kurz nach den Anschlägen von Casablanca, laut Le Monde, am 12. Juni 2003 in Algeciras von der spanischen Polizei verhaftet wurde. Der Bruder Abdullah Benjaich ist der Neuen Zürcher Zeitung zufolge bei der amerikanischen Bombardierung von Tora Bora in Afghanistan gefallen. Der dritte Bruder Salaheddin Benjaich, das berichteten mehrere Blätter übereinstimmend, ist 1996 nach Bosnien gegangen und hat in den Kämpfen dort ein Auge verloren. Er wurde 2003 als einer der Drahtzieher der Attentate von Casablanca in Marokko zu 19 Jahren Haft verurteilt. Alle drei sollen als junge Männer Luxus und leichtes Leben in Europa genossen haben, dann, wie auf einen Fingerzeig Gottes, den Weg zum Glauben gefunden haben und heilige Krieger geworden sein.

Anscheinend gibt es noch einen vierten Bruder, den heute 40-jährigen Achmed Benjaich. Er lebt laut NZZ „in seiner Heimatstadt Tanger ein ruhiges Leben als gläubiger Islamist“. Der Journalist Abouabdillah will auch von diesem Benjaich nie etwas gehört haben.

Zu den Menschen, die gern auf einen Drink im Minzah-Hotel vorbeischauen, gehört auch ein Spanier, der schon lange in Tanger tätig ist. Ein gebildeter Mann, weit gereist, mit hohen Idealen – der offen reden, aber seinen Namen nicht gedruckt sehen will. „Dieses Gespräch“, sagt er gleich zu Beginn, als er seine Visitenkarte überreicht, „hat nie stattgefunden.“ In seinem Eifer erinnert er an den jungen Yahya aus der Mezquita von Granada. Nur dass der Spanier in Tanger ehemals Kommunist war und nun überzeugter Demokrat ist. „Sechzig Prozent aller Marokkaner sind Anhänger von Osama bin Laden“, weiß er. Um die Chancen der Spanier, im Kampf der Kulturen zu bestehen, stünde es schlecht. „Sie glauben“, tadelt er, „nur an den Wein, die Tapas und das Vergnügen – nicht an den Kampf für die Demokratie.“ Er ist überzeugt: „Alle Immigranten meinen, dass Al-Andalus eines Tages wieder ihr Land sein wird.“ Meint er nur die Provinz Andalusien? „Nein, ganz Spanien.“

Wenn es dunkel wird in Tanger, dann sind die Straßen bald ausgestorben. Spärliches Licht leuchtet aber noch in einem heruntergekommenen Gebäude, an dessen Eingang die Reste eines Davidsterns und die Buchstaben CT zu erkennen sind, das alte Casino de Tanger. In den Spielsälen sitzen betagte Frauen und Männer an zwei Tischen, die letzten verbliebenen Mitglieder der einst großen und einflussreichen jüdischen Gemeinde. Sie spielen Karten. Hinter einem Vorhang versteckt sich eine kleine Bar. Ein paar muslimische Gäste stehen am Tresen. Die meisten trinken das einheimische Stork-Bier. In der Ecke sitzt der beleibte Pächter Moise Emergui, fein säuberlich führt er Buch über jeden Ausschank. Er redet mit gesetzten Worten, er wirkt gelassen. Ob er sich hier noch sicher fühlt? „In Israel hätte ich mehr Angst – so lange der Palästinakonflikt nicht gelöst ist.“ Er macht ein paar Eintragungen in seiner Kladde und erklärt: „Hier werden wir von gut ausgebildeten Polizisten geschützt.“ Und: „Hier nehmen sie die Leute in Haft und lassen sie nicht mehr raus, drüben in Spanien kommen sie sofort wieder frei.“

Angst geht trotzdem um. Eine der Kartenspielerinnen, eine hoch gebildete Dame, die dem alten, weltoffenen Tanger nachtrauert, lädt anderntags in ihre Wohnung ein. Als wolle sie auf ihre Art dem Islamismus trotzen, bietet sie schon am Vormittag einen Whiskey an. Aber sie berichtet auch, dass sie seit geraumer Zeit darauf achte, bodenlange Röcke oder Mäntel zu tragen, aus Sorge, sonst auf der Straße angefeindet zu werden. Hat sie Angst? Wie schlimm erlebt sie in ihrem Alltag die Islamisten, muss man von einem Islamo-Faschismus sprechen? Ihre Antwort verstört: „Sie sind schlimmer als die Nazis, bei denen wusste man wenigstens, wo man dran war.“


Mit einer Stunde Verspätung legt die Jet-Fähre in Ceuta ab. Keine fünfzig Passagiere befinden sich an Bord des Doppelrumpfschiffs, das für über tausend gebaut ist. Ceuta in Afrika ist spanisches Hoheitsgebiet, eine Tatsache, die Marokko nie offiziell anerkannt hat. Somit ist die Grenze hier eigentlich keine Grenze. Zu übersehen ist sie dennoch nicht. Einen Doppelzaun hat die Europäische Union hier für umgerechnet 60 Millionen Euro hochgezogen, um sich die Afrikaner vom Leibe zu halten.

Die beiden Gitter sind von messerscharfem Natodraht umschlungen. Sie stehen fünf Meter auseinander, sodass die Patrouillen der Guardia Civil mit ihren Jeeps dazwischen hindurchfahren können. Scheinwerferlicht, Wärmedetektoren, Infrarotkameras – die Grenzschützer haben alles, was sie brauchen, um die Immigranten zu entdecken, die aus Marokko herüber wollen und von denen manche von weit her kommen, etwa aus Nigeria. Doch wer es aus Nigeria bis hier geschafft hat, dreht nicht einfach um und geht nach Hause. Er schneidet den Zaun auf, zwängt sich hindurch. „So schnell, dass wir mit unseren Fahrzeugen meist nicht rechtzeitig hinkommen“, räumt ein spanischer Offizier ein, „und wenn sie dann davonlaufen, was sollen wir machen, sie erschießen?“

In die andere Richtung, über den Grenzübergang Tarajal mit Schranken, Pass- und Zollkontrolle, laufen auch Menschen. Aber sie rennen nicht. Sie schmuggeln. In aller Gemütsruhe. Autoersatzteile, Eisschränke, Fernsehgeräte, Weizen, Bier und Öl – alles, was Europa zu bieten hat und Afrika mit Zöllen belegt. Die Masse der Grenzgänger sind Träger, junge Leute, die von den Händlern dafür bezahlt werden, die schweren Waren über die Grenze zu schleppen. Die Spanier haben kein Interesse, die Ausfuhr irgendwelcher Waren zu stoppen. Und die marokkanischen Grenzer suchen nach nichts – wenn die Händler sie nur ordentlich für das Wegschauen belohnen.

Die Salons der Jet-Fähre sind leer, doch im Unterdeck stehen einige Lastwagen. Der Warenverkehr geht weiter über die Straße von Gibraltar, wenn auch spärlich. Und mit ihm kommen die Illegalen. In Ceuta lungern die Schwarzafrikaner überall herum. Sie warten auf die Gelegenheit, um auf einen offenen Lastwagen zu springen. Nach Europa.

Im Sommer vor zwei Jahren wäre es hier beinahe zu einem Krieg gekommen. Wegen der vor der Küste gelegenen Isla Perejil. Anfang Juli 2002 „besetzten“ zwölf marokkanische Soldaten den ansonsten nur von Ziegen bewohnten Felsen. Daraufhin legten spanische Kriegsschiffe neben den Fähren an. Abfangjäger und Kampfhubschrauber flogen aus Europa herüber. König Mohammed VI. bekräftigte die uralten Ansprüche Marokkos auf Ceuta sowie auf die andere spanische Enklave, Melilla. Die Spanier ließen sich auf keine Verhandlungen ein. Nach einer Woche räumte eine spanische Eliteeinheit den Felsen.

Die Jet-Fähre könnte eigentlich planmäßig ablegen, aber die Kontrollen verzögern alles. Am Fähranleger wird jeder Pass kontrolliert, jede Tasche durchleuchtet, wie sonst auf einem Flughafen. Und die Marokkaner, ein paar Kilometer entfernt, auf ihrem Posten in Tarajal, an der Grenze, die sie nicht anerkennen, tun das Ihre, um Terroristen, echte wie vermutete, vom Übergang abzuhalten. Einen deutschen Reisenden, der auf dem Landweg von Ceuta nach Tanger wollte, ließen sie nicht durch. Sie hatten in seinem Pass mehrere Stempel aus moslemischen Ländern entdeckt.


Wer drüben in Algeciras nach Osten fährt, kommt in der Nähe von Almeria in eine Landschaft, die so aussieht, als habe Christo sie verpackt. Ein Meer aus Plastik, unter dem Gemüse gedeihen, vor allem Tomaten. Gearbeitet wird nach dem Grundsatz: Pro Hektar unter Plastik erntest du 160 Tonnen Tomaten – und dafür brauchst du einen Moro. Auch hier, in der Kleinstadt El Ejido, wurde der Kampf der Kulturen virulent. Vor vier Jahren trieb ein spanischer Pöbel unter den wohlwollenden Augen von Bürgermeister und Polizei die marokkanischen Tagelöhner durch die Straßen. Ein Pogrom gegen jene, die illegal herübergekommen sind und hier schuften, entfacht von jenen, die selber einst in den Norden Europas auf der Suche nach Arbeit wanderten.

Niemand in El Ejido scheint die Horrortage vom Frühjahr 2000 zu bereuen. Niemand möchte darüber sprechen. Lediglich ein Ladeninhaber seufzt vieldeutig: „Es ist eine Last mit den moros, sie sagen heute dies und morgen das.“

(c) DIE ZEIT 13.05.2004 Nr.21


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