Ich hab 'ne Tante in Marokko
Vorurteile sind ja so 'na Sache: irgendwie überlebensnotwendig, um schnelle Entscheidungen treffen zu können, aber man sollte sie auch über Bord werfen können, wenn man zu neuen Einsichten gelangt.
Notwendige Voraussetzung für diesen Entsorgungsprozeß: Bewußtwerdung!
An dieser persönlichen Entwicklung möchte ich Euch teilhaben lassen und fände es natürlich auch interessant, Eure Berichte zu lesen.
I. „Der erste Kontakt“
Bewußt habe ich von diesem Land zum ersten Mal im Kindergarten gehört.
Hab 'ne Tante in Marokko
1. Hab’ ´ne Tante in Marokko, und die kommt hip-hoi!
Hab’ ´ne Tante in Marokko, und die kommt hip-hoi!
Hab’ ´ne Tante in Marokko, hab’ ´ne Tante in Marokko, hab’ ´ne Tante in
Marokko, und die kommt hip-hoi!
2. Und sie kommt auf zwei Kamelen, wenn sie kommt – hip-hoi, hoppel-poppel!
Und sie kommt auf zwei Kamelen, wenn sie kommt – hip-hoi, hoppel-poppel!
3. Uns sie schießt mit zwei Pistolen, wenn sie kommt - hip-hoi, hoppel-poppel, piffpaff!
4. Und wir trinken Coca-Cola, wenn sie kommt - hip-hoi, hoppel-poppel, piffpaff, gluck gluck!
5. Und dann singen wir ein Liedchen, wenn sie kommt - hip-hoi, hoppel-poppel, piffpaff,
gluck gluck, la-la!
6. Und dann schlachten wir ein Schweinchen, wenn sie kommt - hip-hoi, hoppelpoppel,
piff-paff, ding-dong, la-la, oing oing!
7. Und dann kriegen wir ´nen Brief, dass sie nicht kommt - hip-hoi, hoppel-poppel,
piff-paff, ding-dong, la-la, oing oing, ooohhh!
Klang für mich irgendwie wild-verwegen. Mittlerweile konnte ich feststellen, daß nicht alle immer nur mit Kamelen durch die Gegend reiten und auch das Tragen von Pistolen auf offener Straße als eher unüblich einzuordnen ist. Definitiv trinkt man aber Coca-Cola und nicht etwa Pepsi-Cola, wie manche Scherzbolde zu singen pflegten. (Zumindest in Südmarokko :-)) Aber mit Dromedaren durch die Wüste zu wandern hat etwas von dieser wilden Verwegenheit. Turbane und Kopftücher haben für mich auch immer noch den Reiz des Verkleidens und in eine andere Rolle schlüpfen.
II. Wortmalereien
Marrakesch sowie Sansibar und Timbuktu sind so zauberische Wörter, daß ich bevor ich diese Stadt zum ersten Mal sah, fest entschlossen war, sie großartig zu finden und geheimnis- und verheißungsvoll. Die Medina ist wie ein Labyrinth, den Minotaurus habe ich noch nicht gefunden. Aber nach drei, vier Tagen Marrakesch brauche ich auf jeden Fall, frische Luft und Weite. Teils inspirierend, teils sehr profan, hat den Zauber noch nicht verloren.
III. Süßer Tee und Teppiche
Ja und ja. Kitsch und Kunst nah beieinander. Plüsch und Gold und Decken einerseits und bares Sein andererseits.
IV. Das Incha'allah-Prinzip
Als Deutsche hat man ja oft mit dem Vorurteil der Pünktlichkeit zu kämpfen. Bei mir ist da der Leidensdruck besonders hoch, weil mir Chronometer jeglicher Art unsympathisch sind und sich mein Zeitgefühl mit der objektiven, atomuhrgesteuerten MEZ nur selten vereinbaren läßt. In Marokko erwartete ich nun einen sehr entspannten Umgang mit Terminen jeglicher Art.
Bisher war es so, daß immer, wenn es um Buspläne, touristische Aktivitäten oder quasi offizielle Verabredungen ging, waren alle sehr pünktlich, eher anstrengend. Im privaten Bereich konnte ich mich da zurücklehnen und mich endlich mal typisch deutsch, spießig und geradezu pedantisch pünktlich fühlen.
Ich erkläre mir das ungefähr so:
Trifft man auf dem Weg zu einer Verabredung einen Freund, so ist das nicht ein bloßer Zufall, sondern vorbestimmt und folgt einem höheren Plan. Nicht mit ihm zu sprechen und diese von der Vorsehung arrangierte Begegnung gebührend zu würdigen, wäre vermessen, hochmütig. Kann ich irgendwie nachvollziehen, bißchen Demut ist oft angebracht. Aber vielleicht ist ja auch das nur ein Vorurteil.
Wahrscheinlich stört mich das auch nur, weil ich in der selben Zeit nicht 23 spannenden Leuten begegne, oder zumindest nicht mit Ihnen ins Gespräch komme. Es ist gut, immer etwas zu lesen oder zu schreiben dabei zu haben.
V. Weise Menschen
Bisher bin ich noch keinem Marabout begegnet und auch hat mich noch niemand durch kryptische Sprüche auf meinem Weg der Selbsterkenntnis weitergebracht. Das hatte ich insgeheim gehofft. Hört man doch allenthalben von spirituellen Erkenntnissen durch die Stille der Wüste oder von weissagenden alten Frauen etc.
Menschen mit Herzensbildung bin aber sehr wohl begegnet. Bildung im europäischen Sinne wie belesen sein oder ins Theater gehen etc. ist leider nicht sehr verbreitet, dabei gibt es doch so viele spannende Fragen. Einen bibliophilen Marokkaner habe ich aber immerhin schon kennengelernt!
Zwischenbilanz:
Ich glaube ich habe / hatte ein recht romantisch verklärtes Marokkobild. Bin aber nicht bereit alles davon über Bord zu werfen. Schließlich hat jeder ein Recht auf seine ganz persönliche Wirklichkeitskonstruktion, oder?