Guten Morgen,
heute morgen in der "ZEIT" erschienen - vielleicht eine kleine Einstimmung für die nächste Reise
Freiheit, die ich meine
Nirgendwo kann man sich schöner treiben lassen als in Marokkos Königsstadt Marrakesch
Von Tomas Niederberghaus
Ich musste fliehen. Ich konnte das Grau am Hamburger Himmel nicht mehr ertragen. Die Skelette der Bäume, die dem Ostwind trotzen. Die Menschen, die ihre Schultern vor Kälte bis zu den Ohren ziehen und in stiller Winterdepression durch die Stadt gehen. Die Nachbarin von unten, die sich täglich im Hausflur mit dem Nachbarn von oben über Ruhe und Ordnung unterhält und abends um zehn im Bademantel, hellblau, vor unserer Wohnungstür steht, um über ihre Unzufriedenheit zu klagen, deren Grund sie selbst ist. Ich musste raus.
Sinnlichkeit I
Am Horizont glänzen die schneebedeckten Berge des Atlasgebirges hinter einem Palmenhain. Die Sonne legt sich gerade wie ein pfirsichfarbenes Tuch über die Medina von Marrakesch. Ihr Licht taucht die Fassaden der Häuser in ein dunkles Terrakotta. Ich sitze im Café Agana und blicke auf den Djemaa el Fna herab, wie man auf ein Buch blickt, das vor einem liegt. Vor einer halben Stunde, beim ersten Glas thé à la menthe, war der Platz noch leer. Jetzt füllt er sich mit Gauklern und Trommlern und Schlangenbeschwörern, mit mobilen Zahnärzten, die archaische Zangen vor sich ausbreiten, und mit als Frauen verkleideten Tänzern, die Fremde aus kajalgeschwärzten Augen taxieren. Im Dunst der Garküchen stehen Männer in weißen Kitteln. Gerüche steigen auf. Frisch Gebratenes. Koriander. Curry. Pfefferminz. Es wird lauter und lauter. Stimmen. Trommeln. Flötentöne. Dunkelgrau glänzende Kobras erheben sich von bunten Teppichen. Äffchen turnen auf Holzkisten. Frauen tanzen um einen Eselkarren, auf dem ein Junge in einem Meer aus Blumen sitzt. Marrakesch, die nördlichste Stadt des Südens und die südlichste des Nordens, ist ein Rausch. Hier sucht der Mensch nicht die Sinnlichkeit, hier sucht die Sinnlichkeit den Menschen. Benommen vom Miteinander, von Farben und Gerüchen verlasse ich den Platz und laufe zu den schmalen Eingängen der Souks.
Fortsetzung:http://images.zeit.de/text/2008/10/Marrakesch