Einladung zu einer Hochzeit an Wildfremde

im letzten Sommer starb der älteste Bruder meines Mannes auf der Hochzeit seiner Nichte, wo es eine strikte Männer- und Frauentrennung gab (wie trennt man ein Geschlecht?). Ich lag zu dem Zeitpunkt schlafend in einer der vielen Salons bei den Frauen, neben, über und unter mir ebenfalls schlafende Frauen und Kinder. Plötzlich ein hastiges Hin- und Hergerenne und der zu Lebzeiten sehr liebenswerte und ziemlich verrückte älteste Bruder meines Mannes wurde in ein Leintuch gebettet hereingetragen (die Männer haben auf der Dachterasse gefeiert, die Frauen in der Wohnung im 4. Stock).

Die Frauen mussten sofort den Raum verlassen - nicht wegen des Toten, sondern wegen der Männer. Er war mitten beim Koranrezitieren vorneübergekippt, mit dem Kopf auf das Tischtuch aufgeschlagen und war tot - und weil er so ein Spaßvogel war, hat es eine ganze Zeitlang gedauert, bis alle begriffen haben, daß er diesmal keinen Scherz gemacht hat - da war es dann trotz eines anwesenden Arztes für Wiederbelebungsmaßnahmen zu spät.

Am Nachmittag war er noch vor dem Haus gesessen, weiß gewandet, frisch gebadet, blendend aussehend - ein älterer Herr mit meliertem Bart und meliertem Haupthaar und direkt neben der Kuh, die in der Garage neben ihm geschlachtet worden war und in riesigen Kesseln das Fleich nun vor sich hin dampfte. Ich ging an ihm vorbei und weil wir ein besonderes Verhältnis hatten (die letzten Monate schrie er immer mit seinen vielen Kindern und Enkelkinder herum, daß er jetzt sein Land verkaufen würde, nach Mekka fahren wollte und danach auch eine deutsche Frau heiraten würde - dann würden sie schon sehen, was sie davon haben), konnte ich ihn fragen: "bist Du jetzt glücklich, Mohammed?" und als Antwort hat er seine Hand gehoben und wir haben (total haram) unsere Hand über kreuz aufeinandergeklatscht - ja, er war sehr glücklich - mitten in Casablanca, in der Hitze der dunstigen Stadt, mit seinen vielen Verwandten, den Brüdern, den Schwestern, den Kindern und Enkelkindern. Er wollte ja immer weg aus dem Dorf, nichts wie weg.

Sanft gebettet in das weisse Leintuch sah er dann aus wie ein christlicher Märtyrer und gleichzeitig hatte sich das Verrückte in Kindlichkeit zurückverwandelt. "Nichts wie weg" und jetzt war er weg, ganz weg. Wenn jemand gerne gegangen ist, dann er und wenn jemand den direkten Weg ins Paradies nehmen durfte - ohne Umwege über Fegefeuer und Höllenqualen - dann er.

Während der drei Tage Trauer-Sitzens im Innenhof der landwirtschaftlichen Höfe der Familie habe ich meinen Mann nur ein einziges Mal von ferne gesehen - als seine älteste Schwester angekommen war und er sie am Tor zum Frauenhof umarmt hat. Die strikte Männer- und Frauentrennung wurde auch hier eingehalten, was ich als grosse Befreiung für die trauernden Frauen (wie es bei den Männern im Männerzelt zuging, weiß ich ja nicht) erlebt habe - sowohl von den Traueritualen als auch der schwesterlichen Offenheit, Zärtlichkeit und Liebe im Umgang miteinander, während gleichzeitig perfekt Essen, Trinken und Schlafen organisiert wurde.

Wie hätte ich mir gewünscht, so weinen zu können beim Tod meines Bruders vor vielen Jahren - wo ich an meinem Schluchzen, meiner Wut und meiner Trauer fast erstickt wäre. Wie gerne wäre ich da auch so gesessen und hätte miterlebt, wie sehr er anderen fehlt, wie sehr sie ihn geliebt haben und nicht dieser herzlose Übergang in den schnellen Alltag, der einen glauben macht, der andere wäre nur verreist. Ich habe an alle die unerlösten Seelen gedacht, die nicht - während sie in den Himmel aufsteigen - sehen und hören und fühlen können, wie unersetzlich und unvergleichlich sie waren (Tote laufen ja noch eine Zeitlang unter den Lebenden herum, man kann sie hören und fühlen) und auch daran, wie frei heraus sich manche der Verwandten selbst beschuldigt haben, daß sie ihn nicht ernst genug genommen haben, ihn nicht immer so behandelt haben, wie es ihm zugestanden wäre und dann getröstet wurden - Rituale der Reinigung, des Übernehmens von Schuld und des Reichens einer Hand "wir sind alle keine Engel, nimm es nicht so schwer".

Möglich ist diese ganz besondere Offenheit, diese Entblößung nur mit einer strikten Männer- und Frauentrennung - und es entsteht während dieses innigen Tag- und Nachtzusammenseins eine ganze eigene, entrückte Stimmung: Männer, Liebhaber, Brüder und Söhne wären da fehl am Platz - ebenso wie wahrscheinlich Mütter, Ehefrauen und Töchter bei den Männern.

Weder bei der Hochzeit noch bei der Beerdigung (auch ein Spektakel, das für Europäer durchaus einen echten Gefühlsthrill haben könnte, auf den er im Rahmen eines Pauschalprogrammes Anspruch zu haben glaubt) wären Fremde zugelassen worden. Eine der Töchter hat eine gute Freundin aus Casablanca mitgebracht, weil diese ein Auto hatte und sie sonst nicht bis ins Dorf gekommen wäre. Diese Freundin hat sich ins Männerzelt gewagt (mit dicker Sonnenbrille, aufreizendem Makeup und "kleinem Höschen"), was einen Riesentumult verursacht hat: letzten Endes ist sie regelrecht vom Gelände verjagt worden - nicht gerade mit Steinen, die man hinter ihr hergeworfen hätte - aber knapp davor. Und noch lange konnten sich beide Geschlechter nicht beruhigen ob dieses ungebührlichen Verhaltens der Tochter, "so eine" mitzubringen. Frauen in Marokko bewundere ich, je länger ich dort bin und je mehr ich sehe und erlebe, desto mehr: sie haben meinen ganzen Respekt, meine ganze Bewunderung und wenn sie mein Alter haben, dann ziehe ich ihre Gesellschaft jeder anderen vor - nicht weil sie so unendlich weise wären (das sind sie auch), sondern weil sie so unendlich frech, schlagfertig und lebensklug sind und ihre Männer ihnen in diesem Alter jede Freiheit lassen.

Etwas andere[b][/b]s bliebe ihnen auch gar nicht übrig.


Josi