So sieht Marokko die Situation in Ceuta und Melilla:


Die neuen Verdammten dieser Erde - Ceuta und Melilla - aus afrikanischer Sicht

22.10.2005 - In seinem Klassiker «Die Verdammten dieser Erde» schilderte Frantz Fanon 1961 die unüberbrückbare Kluft, die Kolonisatoren und Kolonisierte trennt. In diesem Zeichen sieht der senegalesische Schriftsteller und Journalist Boubacar Boris Diop auch die menschenunwürdigen Szenen, die sich in Marokko in den vergangenen Wochen um die spanischen Exklaven von Ceuta und Melilla abspielten.

Am 21. Februar 2005 führte ein Beitrag in der «New York Times» den Titel «Mehr afrikanische Immigranten als zur Zeit der Sklaverei». Der Vergleich ist nicht nur - höflich ausgedrückt - befremdlich, sondern auch gefährlich. Er verstärkt das Gefühl, dass der Westen zur Auffangstation für die Misere der restlichen Welt geworden sei und dass dem ein Ende gesetzt werden müsse.

Dieser Überdruss mag die Brutalität der Vorgänge um Ceuta und Melilla erklären. Weltweit strahlten die Nachrichtensender Bilder von blutverschmierten Handschuhen aus, die im Stacheldraht hängen geblieben waren, von jungen Afrikanern, die benommen durch die Wüste stolperten, und - auch das durfte nicht fehlen - von einigen guten Seelen, die in den Auffangzentren Brot verteilten. Die Tatsache, dass beim verzweifelten Sturm auf die um die Exklaven gezogenen Sicherheitszäune - die bald auf unüberwindbare sechs Meter hochgezogen werden sollen - 16 Tote und Hunderte Verletzte zu beklagen waren, schockierte die Öffentlichkeit weniger als der unglaubliche Beschluss, die Migranten in die Wüste abzuführen und sie dort sterben zu lassen. Der Anblick aneinander geketteter junger Schwarzer weckt in Afrika unweigerlich böse Erinnerungen; freilich sollten sie diesmal nicht mit Gewalt in den Westen verschleppt, sondern vielmehr an der Reise dorthin gehindert werden.

Schutz um jeden Preis

Marokko hat diese inhumane Praxis inzwischen aufgegeben, aber der Schaden lässt sich damit nicht ungeschehen machen. Und nach wie vor schiebt man sich die Migranten von hüben nach drüben unwillig zu, als wären sie Kehricht und nicht menschliche Wesen. Die beiden grossen Ängste des Nordens - Terrorismus und Immigration - haben zu Reflexen geführt, die den Anschein vermitteln, als wäre der Schutz der «Festung Europa» wichtiger geworden als derjenige der Menschenrechte, auf die sich die europäische Tradition so viel zugute hält.

Die jüngsten Bilder von der spanisch-marokkanischen Binnengrenze wie auch die immer wiederkehrenden Berichte von kaum seetüchtigen Booten, die - wenn sie nicht bei der Überfahrt kentern - ihre menschliche Fracht an den Ufern von Lampedusa, Malta oder Zypern deponieren, lassen den Eindruck entstehen, dass das friedliche und wohlhabende Europa einem wahren Ansturm von Schwarzafrikanern ausgesetzt sei. Dabei sollte aber nicht vergessen gehen, dass sich unter den unseligen boat people Vertreter fast aller armen Nationen Asiens und Afrikas finden; und dass bis vor kurzem vor allem Nordafrikaner den Zugang ins verbotene Paradies von Ceuta und Melilla suchten.

In Anbetracht dieses Umstands ist es besonders pikant, dass nun Marokko und Algerien, Libyen und Mauretanien damit betraut werden sollen, die afrikanischen Migranten von Europa fernzuhalten. Dem libyschen Staatschef Ghadhafi sieht man aufgrund entsprechenden Wohlverhaltens plötzlich die Repression nach, die er im eigenen Land praktiziert; und Marokko lässt sich mit 40 Millionen Euro dafür entschädigen, dass es die wenig ehrenhafte Rolle des Rausschmeissers übernimmt. Auf längere Sicht könnte aus dieser künstlich geschaffenen Gegnerschaft zwischen Maghrebinern und Schwarzafrikanern, überlagert noch vom entlang ähnlicher ethnischer Grenzen verlaufenden Konflikt in Darfur, ein gefährliches innerafrikanisches Spannungsfeld resultieren.

Abgesehen von diesem Risiko fragt sich auch, ob die sich abzeichnenden Panikreaktionen überhaupt gerechtfertigt sind. Die Statistiken über die Versuche illegaler Grenzübertritte weisen nämlich nicht auf eine drohende Invasion Europas via Sahara und Mittelmeer hin, sondern verzeichnen vielmehr sinkende Zahlen: In Spanien registrierte man heuer 12 000 Versuche gegenüber 55 000 im Vorjahr, in Italien 3000 gegenüber 6350.

Warum?

Man kommt anderseits auch nicht um die Frage herum, warum junge Afrikaner - nicht selten gerade die mit höherer Bildung - ihr Leben für die schiere Möglichkeit, nach Europa zu gelangen, aufs Spiel setzen; warum sie sich mit Steinen und Fäusten gegen schwer bewaffnete Soldaten stellen oder sich einem überfrachteten Kahn anvertrauen, um dann mit aller Wahrscheinlichkeit in einem inferioren Job und elenden Lebensverhältnissen zu landen. Das Schauspiel dieser erbärmlichen Exil-Kandidaten, wie Schlachtvieh bereit, ihr Schicksal auf sich zu nehmen, hat am meisten geschmerzt. Als Afrikaner empfand man bei ihrem Anblick Scham und - es sei zugegeben - eine dumpfe Wut. Wenn man schon bereit ist, sein Leben zu opfern, um die Heimat zu verlassen: warum dann nicht besser diesen Opfermut in den Dienst der Heimat stellen, sein Leben dort investieren, zumindest im Interesse der künftigen Generationen? Das zu verstehen, fällt schwer.

Es sind denn auch nicht allein die Verlockungen Europas, welche die tödliche Entschlossenheit der jungen Migranten erklären; eher verhält es sich so, dass sie in eine Falle geraten sind. Wenn einer von ihnen am Fuss des Stacheldrahtzauns von Ceuta oder Melilla steht, hat er seine gesamten Ersparnisse in den Händen von Schleppern oder bestechlichen Grenzbeamten zurückgelassen. Er hat in überladenen Camions oder auch zu Fuss oft Tausende von Kilometern auf unwirtlichen Strecken zurückgelegt, hat am Zielort Monate oder gar Jahre unter Schicksalsgenossen verbracht, die in improvisierten Camps von der Hand in den Mund leben und vom Sprung nach Europa träumen. Mit jedem Tag wächst die Überzeugung, dass man es schaffen wird, weil man es schaffen muss: Wer kann einem Verzweifelten vorwerfen, dass er die Illusion hegt, nur ein paar Stacheldrähte trennten ihn und die Seinigen daheim von einem neuen Leben?

Neben der Unmöglichkeit, geschlagen und mit leeren Händen den Weg nach Hause anzutreten, spielt auch der Gruppendruck eine Rolle. Viele der jungen Männer hört man sagen: «Ich wusste nicht, was auf mich zukam - es war unerträglich, aber wann immer ich aufgeben wollte, haben mich die anderen zum Weitermachen gedrängt.» Statt die Migranten von der Warte der Privilegierten herab zu verurteilen, müsste man der Kraft dieser verzweifelten Hoffnung Rechnung tragen.

Afrika schweigt

Während sich das Augenmerk der Weltöffentlichkeit auf Ceuta und Melilla richtete, hat kein afrikanisches Staatsoberhaupt gegen die Behandlung protestiert, die seinen Landsleuten zuteil wurde; auch die Afrikanische Union hielt eine Stellungnahme für unnötig. Es ist anzunehmen, dass die Emigration von gewissen Regierungen sogar begrüsst wird: Man hat selbst weniger Mäuler zu stopfen, und die von den Migranten überwiesenen Gelder sind eine willkommene Infusion in die ausgeblutete Wirtschaft des Landes. Zudem haben die afrikanischen Politiker wohl nicht zuletzt geschwiegen, um ihre europäischen Amtsbrüder nicht zu verstimmen.

Mit solchem Zynismus auf höchster Ebene hat man in Afrika leben gelernt; bedauerlicher ist die Passivität der Zivilgesellschaft. Immerhin hat die Malierin Aminata Traoré, eine Führungsfigur in der globalisierungskritischen Bewegung Afrikas, am 14. Oktober zu einer «Marche de Dignité» aufgerufen, die sie und zehn Gesinnungsgenossinnen über Paris, Mailand und Madrid nach Brüssel führen soll. Aber dies ist ein Einzelfall; insgesamt scheint auch Afrika nicht geneigt, sich der zwischen die Grenzen Geratenen anzunehmen. Politiker wie Intellektuelle schlagen mehrheitlich einen Bogen um das Thema Ceuta und Melilla.

Doch Wegsehen nützt am Ende nichts, und auch mit strengeren administrativen Massnahmen wird der Migration kein endgültiger Riegel zu schieben sein. Einzig mit einer gezielten und langfristigen Politik, die auf die Beseitigung der Missstände in den Herkunftsländern setzt, wäre der Migrationsdruck abzubauen - und damit nicht zuletzt die Möglichkeit, dass Frustration und Verzweiflung in Schwarzafrika einen neuen Gefahrenherd auch für die europäische Gemeinschaft entstehen lassen.

von Boubacar Boris Diop/ NZZ


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