Guten Abend,

Im Wald von Missnana
Ein Lager afrikanischer Flüchtlinge vor der Festung Europa von Paulo Moura, portug. Journalist

Fortsetzung (3)

Isaias ist Einzelgänger. Gefangen in einer Vision. Eine junge Frau kommt zu seiner zanga und setzt sich. "Ich habe Kopfweh, Herr Pastor." Isaias kramt in seinen Taschen, gibt ihr eine Tablette. Andere kommen mit Durchfall oder Lungenentzündung. Oder schleppen sich den Berg hoch, um in seinen Armen zu sterben. Oder um geboren zu werden. Viele Frauen bringen ihre Kinder im Wald zur Welt. Ohne Hilfe, ohne Medikamente, ohne Hygiene. Nach Missnana kommen keine Ärzte, keine NGOs und keine Ordensschwestern. "Zu gefährlich." Also ruft Isaias eine camarade, die vielleicht Erfahrung als Krankenschwester hat. Und ein weiterer Illegaler wird geboren. Oder stirbt.

Isaias ist dreißig und, obgleich Pastor, der einzige camarade, der keine Bibel besitzt. Die Marokkaner haben sie ihm im Durcheinander einer ihrer Razzien, wie er sagt, weggenommen und verbrannt. Was nicht weiter schlimm ist, da er das Heilige Buch auswendig kennt.

Auf den ersten Blick unterscheidet sich seine zanga kaum von den anderen. Auf dem Boden liegt eine Decke, und ein Geflecht aus Ästen bildet das Dach. Aber er lebt hier allein, und das ist der Unterschied. Und dass es noch eine Art "Neben-zanga" gibt, in der eine junge Frau für ihn kocht. "Ich kann nicht arbeiten oder mich mit materiellen Dingen beschäftigen, ich muss meiner Gemeinde jederzeit mit geistigem Beistand zu Verfügung stehen können."

Er war bereits in Nigeria Pastor, wo er schon sehr früh Mitglied der Pfingstgemeinde wurde. Er hatte jahrelang Leute betreut, die illegal auswandern wollten. Bis er sich selbst dazu entschied.

Er durchlief die verschiedenen "Stationen" dieser Reise in beiden Richtungen. Zwei Monate in Niger, drei an der Grenze zu Mali, wo ihn Beduinen überfielen, vier an der algerischen Grenze, im Gebiet von Oujda, zwei an einem Ort nahe Rabat.

"camarades findest du überall. Zu Tausenden, auf der ganzen Strecke durch Afrika. An manchen Orten sind die Lebensbedingungen unvorstellbar. Die Leute haben dringend einen Pastor gebraucht."

Isaias brachte ihnen die Bibel näher, predigte ihnen Moral und sittliches Handeln, erzählte ihnen von Europa und dem modernen Leben, klärte sie über Recht und Gesetz auf, unterrichtete sie in Überlebensstrategien und hielt an allen Stationen des Santiagoweges durch Afrika Gottesdienste ab. Er trägt sich mit der Absicht, seine Missionsarbeit in Europa unter den Einwanderern fortzusetzen. Zwischen Benin City und Missnana, wo er vor acht Monaten ankam wie alle anderen auch, gibt es keinen camarade, der ihn nicht kennt. Er ist nicht nur ihr Priester, sondern auch ihr Medizinmann.


Mohammed steigt aus seinem Wagen und geht zu Fuß auf der Privatstraße des Königspalastes weiter. "Guten Tag!" Die bewaffneten Wächter begrüßen den fünfzigjährigen, zahnlosen Marokkaner mit dem dicken Bauch, der uns an der Steilküste entlang zum Strand führt, wie einen alten Bekannten. Wir passieren zwei weitere Wächter und gelangen an ein kleines Stück Strand. Wenige Meter vor uns ragt ein spitzer Fels aus dem Wasser.

"Von hier", sagt Mohammed, "fährt der Zodiac ab." Bei dem Fels stehen zwei junge Frauen in Nachthemden bis zu den Knien im Meer. Ein dünner, ernster Mann gießt ihnen aus Eimern Wasser über den Kopf. 99 Eimer mit Wasser vom Schönen Fels, und ein Ehemann ist garantiert, der Legende nach.

Mohammeds Zodiac ist ein neun Meter langes, mit Holz verstärktes Schlauchboot mit einem achtzig PS starken Motor. Es nimmt 35 Personen auf. "Wir kommen hier nachts mit den Illegalen her. In zehn Minuten haben wir sie alle an Bord."

Mohammed grüßt den Mann mit dem Eimer. Es ist sein Vetter. Von jedem Mädchen verlangt er je fünfzig Dirham, und es fehlt ihm nicht an Kunden. Das Geschäft mit Utopien ist ein Familienunternehmen.

Livingstone hat bereits die Hälfte für die Überfahrt mit dem zodiac bezahlt, aber der entscheidende Telefonanruf des camarade, der als Verbindungsmann zur marokkanischen Mafia fungiert, lässt auf sich warten. "Ich frage mich allmählich, ob mein Geld überhaupt an den Richtigen gekommen ist", sagt er.

In Missnana gibt es ein weitverzweigtes, undurchsichtiges Netzwerk von Gewährsleuten, das einer gewissen Grausamkeit nicht entbehrt. Die einen stellen den Kontakt zur marokkanischen Gibraltar-Mafia her, die anderen stehen mit der nigerianischen Mafia in Afrika und Europa in Verbindung, wieder andere nehmen das fällige Geld in Empfang oder kümmern sich um die Überweisungen, die für die camarades bei der Western Union eintreffen, sichern die Verpflegung, sind Polizeiinformanten oder sorgen für Ordnung im Wald. Und es gibt eine Hierarchie. Leute, die Macht haben, und solche, die keine haben. "Wir gehen nicht gerade zimperlich miteinander um", sagt Benjamin, der nur selten spricht.

Mohammed lässt seine Zodiacs von unterschiedlichen Stellen ablegen. Immer in der Nähe eines königlichen Palastes oder eines anderen gut bewachten Platzes. "Mir ist das lieber, ich besteche die Wächter, und wir sind geschützt. Es ist sicherer so. Manchmal helfen die Polizisten selbst den Illegalen ins Boot."

Sein bevorzugter Platz aber ist ein Strand in der Nähe des Hauses seiner Schwester. Ein Minibus holt die camarades bei Einbruch der Dunkelheit in Missnana ab. Er hält vor einer offiziellen Residenz des Königs. Die camarades nehmen eine Abkürzung zum Garten der Schwester, der auf einer Klippe liegt. Sie warten, bis der Befehl zum Abstieg kommt. Wenn sie den Strand erreichen, ist der zodiac abfahrbereit. Sie zahlen die noch fehlende Hälfte ihres "Fahrscheins" und steigen einer nach dem anderen ein. Männer, Frauen, Kinder. "Marokkaner nehme ich für tausend Dollar mit, Schwarze für zweitausend, weil sie ein größeres Risiko sind. Als erstes müssen die Marokkaner ihnen die Hände zusammenbinden, damit sie nicht auf die Idee kommen, dem Bootsführer eins überzubraten und mit dem Geld und dem Boot abzuhauen. Und dann nichts wie los. Wenn alles gutgeht, sind sie in drei Stunden in Spanien. Sieben Meter vom Strand entfernt müssen alle Mann über Bord. Auf eigene Gefahr." Es geht nicht immer gut aus. Oft kommen sie erst am nächsten Tag an, manchmal auch nie. Viele der Leichen im Leichenschauhaus von Tanger werden mit zusammengebundenen Händen eingeliefert.

Livingstone und Benjamin wünschen sich nichts sehnlicher, als mit einem Zodiac auf und davonfahren zu können, die Willkürherrschaft der Bosse von Missnana ist für kaum mehr zu ertragen. "Sie schlagen uns, wenn wir uns verlaufen oder beim Wasserholen verspäten …" Die "Bosse" sind diejenigen, die am längsten in Missnana sind oder die besten Beziehungen zur nigerianischen oder marokkanischen Mafia haben. Sie verlangen Geld für Essen, Kleidung, Schutz, Telefonate und den Zugang zu den Taxis, die sie kontrollieren. Jedem "Busch" steht ein Boss vor, der sich mit "Vater" anreden lässt. Sie haben ihre eigene Rangordnung, und hin und wieder gibt es Streit. Das Motiv sind Geld oder Frauen, die anderen wegnehmen zu können einige glauben, die sich als deren Männer oder als Mitunterzeichner eines "Vertrages" betrachten. In Missnana werden Schlachten ausgetragen, die weit blutiger sind als die Polizeirazzien.

Mohammed hatte nie eine richtige Arbeit. Er hat es zwar als Klempner versucht, aber das war nicht seine Sache. Bis er dann vor vier Jahren mit seinem Bruder die erste patera baute, ein primitives Holzboot. Es war die Hochzeit der heimlichen Emigration, da Spanien damals keine Visa mehr ausstellte. Mohammed organisierte rund 15 Überfahrten pro Jahr. Jetzt sind es noch fünf. "Wir benutzen keine Holzboote mehr. Inzwischen haben sich alle 'Unternehmer' Schlauchboote zugelegt." Rund zwanzig in der Umgebung von Tanger, und alle unabhängig. Keine organisierte Mafia. Niemand hat mehr als zwei Zodiacs.

Mohammed rechnet uns offen vor: Jede Überfahrt mit den Illegalen bringt ihm durchschnittlich 50 000 Euro ein. Davon gehen 7 000 an den Bootsführer und noch einmal soviel an den Polizisten, der für die Sicherheit sorgt. Der Fahrer des Minibusses sowie weitere Aufpasser und Kontaktleute bekommen insgesamt tausend Euro. Zieht man die 2 000 Euro Amortisationskosten ab - der Zodiac ist 12 000 wert -, bleibt ein Reingewinn von 33 000 Euro pro Trip oder, genauer: 165 000 Euro pro Jahr. Nicht eingerechnet das Geld, das die Drogen abwerfen, die immer mit an Bord sind.

"Aber es fallen ständig irgendwelche Extrakosten an, schließlich ist das Ganze ein Risikounternehmen. Vergangenes Jahr ist ein Zodiac untergegangen. Dabei sind einige ertrunken, auch der Bootsführer. Die Polizei hat ihn zusammen mit seinen Papieren gefunden und ist zu mir gekommen. Um fünf Uhr morgens standen sie vor der Tür und haben mich verhaftet. Der Anwalt hat mich 500 Euro gekostet und der Richter 2 000. Ich wurde zwar verurteilt, bin aber freigekommen. So ist das in diesem Land mit der Demokratie. Sie ist käuflich. Ganze 2 500 Euro und dann noch die 12 000 von dem Boot …"

Mit dem Gehabe eines Patriarchen sitzt Mohammed in dem Haus, von dem aus er die Illegalen in das Schlauchboot bringt; er stellt uns seine Schwester und seine 13 Kinder vor. Alle verheiratet, mit Ausnahme dreier lächelnder Mädchen. "Sie haben sich europäische Männer in den Kopf gesetzt", sagt die Mutter. Die Familie lebt in bescheidenen Verhältnissen, Mohammed bringt das ganze Geld durch. Seine Frau, eine fettleibige Dreiundvierzigjährige, die verschämt lächelt, zuckt die Achseln, als wir sie fragen, ob sie Angst hat. "Ich hab’ vor nichts mehr Angst", sagt sie und senkt ihre Stimme. Sie ist Fatalistin geworden.


Tief im Wald von Missnana haben sich Benjamin und Livingstone gewaschen und ihre besten Kleider angezogen. Es ist Sonntag. Sie sind bereit für den Gottesdienst.

Eine Lichtung, die ansteigt wie ein natürliches Amphitheater. Die Pastoren treffen als erste ein. Nicht Isaias, aber Emmanuel, Jonathan und vier weitere Prediger, sie alle erteilen vor dem eigentlichen Gottesdienst in kleinen Gruppen Bibelunterricht.

Anfangs sind es nur einige Dutzend camarades, die sich für die theoretischen Gespräche interessieren. Am späten Morgen aber geschieht Erstaunliches. Sie strömen aus allen Richtungen herbei, Männer und junge Frauen, einige mit Säuglingen auf dem Arm, alle sauber herausgeputzt und in ihren besten Kleidern, um an dem großen Wochenereignis teilzunehmen. Die Pastoren beginnen mit dem Gottesdienst, und die camarades suchen sich einen Stehplatz im Amphitheater. Es werden immer mehr, sie kommen in ganzen Pulks, schwatzend, frisch und in festlicher Stimmung, die camarades, Menschen, die seit Jahren im Wald leben, unter freiem Himmel schlafen, sich verstecken müssen, verfolgt werden, krank sind und verzweifelt. Jetzt sind es über 300, und sie wiederholen im Chor die Worte des Pastors: "Lasst uns vergeben. Wenn wir unserem Nächsten vergeben, wird auch der Herr uns vergeben. Please Master Jesus!" Rhythmisches Klatschen begleitet die Worte. "Please Master Jesus! Hallelujah! Hallelujah!" Und es werden immer mehr, es sind jetzt Hunderte. Plötzlich erhebt der Pastor die Stimme: "Wenn ich sage 'Singt!', dann singt und tanzt ihr alle. Ich möchte, dass ihr eure Körper gebraucht, um mit dem Herrn zu sprechen. Singt!" Und wie ein Orkan bricht es los. Sie schmettern, mehrstimmig, wie ein perfekter Chor, improvisieren, entwickeln eigene Rhythmen. Eine junge Frau springt nach vorn und ruft immer wieder: "Praise the Lord!" Der Satz wird von allen aufgenommen und unter rhythmischem Klatschen wiederholt. Lauter und lauter, in unterschiedlichen Stimmen, in Solos, in Duetten und komplizierten, spontanen Arrangements. Dann tritt Isaias auf. Jetzt geht es erst richtig los. Er brüllt: "Alle hoch mit den Armen!" "Augen zu und Arme hoch!" Eine Frau stimmt eine Melodie an. Isaias brüllt: "Jesus is love!" Die camarades wiegen sich hin und her und wiederholen: "Jesus is love!" Ein frenetischer, wahnhafter Wechselgesang beginnt. Wird schneller. "Jesus Christ is love! He is love!" Da setzt Isaias unvermittelt zu einer Moralpredigt an, ergeht sich über die kommenden Zeiten, die Gefahren und Herausforderungen, die auf die camarades im Wald, während der "Deportation", auf der Überfahrt und in Spanien warten. Eine immer glühendere Rede, ermunternd, aufwiegelnd, einem Ritual folgend, stürmisch, von Zurufen unterbrochen, Klatschen und Musik. "Sagt mir, was euch zerstört? Sagt mir, wer euch verfolgt, wer euch Böses will, euch das Brot nimmt und die Freiheit? Nichts und niemand! Nur ihr selbst zählt! Ihr und Gott! Ihr und Europa! You and the espanol!" Isaias rennt auf und ab, zetert, schneidet Grimassen, erzählt Geschichten, verkörpert andere Menschen; er ist ein Schauspieler, ein überspannter Pantomime. Sein Handy klingelt, der Sirenenton eines Krankenwagens, er wirft es auf den Boden, tritt nach ihm. "Sie schimpfen uns Neger. Gangster. Aber die Bibel sagt, dass nichts uns aufhalten kann. Wir sind unbesiegbar." Er ruft nach irgendeinem camarade aus der Menge und bittet ihn, ein Lied zu singen. Der Mann, groß und mager, in zerlumpter Kleidung und mit zwei verschiedenen Schuhen an den Füßen, stimmt einen eintönigen Singsang voll falscher Töne an. "Da seht ihr selbst!" sagt der Pastor. "Wir haben fantastische Leute! Mit unserem Talent, unserem Lächeln besiegen wir den Spanier!" Isaias gerät völlig aus dem Häuschen, fällt in Trance, und mit ihm alle camarades. "Haltet eure Hände vors Gesicht und seht sie fest an. Bittet den Herrn, sie zu segnen. Sprecht, sprecht mit dem Herrn! Nehmt euer Leben in die Hand, haltet es fest!"

Und schon beginnen die camarades, laut zu Gott zu sprechen. Jeder für sich und ganz persönlich, und jeder sieht dabei auf seine Hände. Einige schlagen sich gegen den Kopf, andere weinen, wieder andere schimpfen mit Gott, schreien aus voller Lunge. Die allgemeine Erregung steigert sich, erreicht ihren Höhepunkt. Erfasst den Wald wie ein Beben. Einige haben tiefe Schatten unter den Augen, andere sind mit Ausschlag übersät oder husten sich die Seele aus dem Leib. Alle sind krank oder vom Tod gezeichnet. Aber es ist, als ob sie gerade daraus Lebenskraft schöpften. Als sei jeder von ihnen nur eine Stimme, die sich laut bei Gott beschwert. "Nimm mir die Angst! Mach, dass ich nicht enttäuscht werde!" flüstert flehentlich und mit geschlossenen Augen eine junge Frau. "Lass mich an mein Ziel kommen."

Im Regen, mitten auf dem Intendenteplatz von Lissabon, wirkt Juliete wie ein verlorenes Kind. 8 000 Dollar hat sie bereits gezahlt. Jetzt fehlen nur noch 32 000. Sie glaubt, dass sie ihre Schulden bei durchschnittlich fünf Kunden pro Tag in sechs Monaten abgetragen haben wird. Dann ist sie frei.

Aus dem Portugiesischen von Ines Koebel