Guten Abend,

Über ein Lager afrikanischer Flüchtlinge vor der Festung Europas
Im Wald von Missnana (Oujda) von Paulo Moura (portug. Journalist)

Fortsetzung (2)

Während seiner zwei Monate dauernden Reise vom nigerianischen Benin City nach Tanger musste Michael eine Reihe von "Schutzzöllen", "Steuern" und "Kommissionen" zahlen. Auf der Strecke durch die Wüste wurde er mehrmals überfallen. Als er in Missnana ankam, besaß er nicht einmal mehr Geld für einen Telefonanruf, geschweige denn für die Fahrt über die Straße von Gibraltar. Sie kostet 2 000 Dollar.

"Meine Familie hat sich jahrelang krummgelegt, nur damit ich studieren konnte. Als einziger von uns Geschwistern. Sie hat sozusagen in mich investiert. Ich bin ihre große Hoffnung."

Nach der Uni arbeitete Michael ein Jahr lang für eine staatliche Bank, ohne Lohn. Anschließend wurde er entlassen. "An eine feste Anstellung kommen in Nigeria nur Kinder aus den wenigen reichen Familien. Alle anderen haben nicht die geringste Chance."

Michaels Vater beschloss, seinen einzigen Besitz zu verkaufen - ein Haus, das der Familie seit Generationen gehört -, um Michael die Reise nach Europa zu finanzieren.

Und jetzt braucht Michael Geld für einen Anruf. Seine Leute müssen wissen, dass er hier ist, damit sie anfangen können, die Summe für die Überfahrt zusammenzulegen. Die 2 000 Dollar, die sie ihm über die Western Union schicken wollen. Das kann Monate dauern, Jahre oder kommt vielleicht nie an. Aber irgendwann muss man die Sache schließlich auf den Weg bringen. Auch wenn es Michael zusehends schlechter geht, wird er, wie alle hier in Missnana, nicht aufgeben. Oder doch? Von seiner zanga aus sehen wir, wenn wir durch die Äste schauen, die Schlupfwinkel der anderen camarades, eine Art hängende, unwirkliche Stadt. Eine Station auf dem Weg der Hoffnung und des Neuanfangs. Eine Station in der Hölle, nur für Reisende mit der Lunge eines Wals und dem Gemüt eines Sisyphus, denen es nichts ausmacht, dass sie hier sterben, um eines Tages zu neuem Leben zu erwachen.

Jonathan zum Beispiel, dessen Familie sich das Geld für seine Reise mühsam und auf nicht immer legale Weise beschaffte. 5 000 Dollar, mit denen er Afrika von Nigeria aus über Niger, Mali und Algerien im Lastwagen und zu Fuß durchqueren konnte, mit unfreiwilligen Zwischenstops und Überfällen … Jetzt wartet Jonathan auf weiteres Geld von seiner Familie. Ein marokkanischer Vertrauensmann wird es von der Filiale der Western Union in Tanger abholen; abzüglich einer Kommission, versteht sich.

Und Edith, die angeblich verheiratet ist und in Europa Informatik studieren möchte, tatsächlich aber in Nigeria einen Sklavenvertrag unterzeichnet hat, der sie zwingen wird, sich in Europa zu prostituieren, um an ihre "Chefs" 40 000 Dollar zahlen zu können.

Livingstone, der bereits einen Teil der Reisekosten nach Spanien an einen marokkanischen Menschenschmuggler gezahlt hat und nun seit Wochen auf den Anruf wartet, der ihm grünes Licht zur Überfahrt gibt.

Benjamin, der weder Familie in Afrika noch in Europa hat. Seine Eltern starben kurz nach seinem Weggang aus Nigeria, einfach so, mitten in seiner Auferstehung. Er konnte etwas Geld sparen, aber nicht genug. Für die Überfahrt fehlen ihm 500 Dollar. Er lebt seit einem Jahr hier im Wald und hat bisher nicht einen Dollar auftreiben können. Und es besteht auch keine Chance dazu. Benjamin sitzt fest in Missnana.


Ein schwarzer Mann wagt sich durch eine finstere Gasse in der Altstadt von Tanger, sein Blick ist gehetzt, sein Schritt schnell und unsicher, wie von jemandem, der durch ein Labyrinth irrt. Scheinbar, aber nur scheinbar unbemerkt, bewegt er sich durch das Gedränge der Fußgänger und Händler. Er fällt auf. Alle sehen ihn, und er weiß es. Und er weiß auch, dass es gefährlich ist, auf die Straße zu gehen, aber er kann sich nicht tagelang in seinem schmutzigen Pensionszimmer einschließen. Er braucht etwas zu essen, braucht Geld, muss einen Weg finden. Er ist gezeichnet, spürt, dass man ihn überwacht, ihm auf Tritt und Schritt folgt, spürt es wie einen Dolch im Rücken, hat Angst, und diese Angst treibt ihn vorwärts, blindlings, in den Rachen der Hydra.

Vor einem Jahr bevölkerten Tausende von Subsaharern die Straßen von Tanger. Sie kamen aus Nigeria, Liberia, der Elfenbeinküste und dem Senegal, alle mit dem einen Ziel: Europa, das gelobte Land. Das gastfreundliche Tanger war zu einer Art Traumfabrik geworden. Doch das ist vorbei. Marokko möchte ein modernes Land sein und ist willens, in jeder Hinsicht mit Europa zusammenzuarbeiten. Spanien sieht sich aufgrund seiner Lage als südliches Grenzland des alten Kontinents mit wachsenden Problemen konfrontiert, insbesondere, seit Tausende illegaler Emigranten aus der Subsahara Monat für Monat die Strände von Tarifa und Algeciras ansteuern. Auch wenn viele abgefangen und abgeschoben werden, gelingt es den meisten, an Land zu gehen und, abgerissen, ohne Dokumente oder auch nur irgend etwas, das sie verlieren könnten, unbemerkt in die reiche, aber fragile Legalität einzudringen. Ein unhaltbarer Zustand.

Der Schwarze bleibt stehen, sieht sich nach allen Seiten um, senkt den Kopf, geht weiter und wird von einem Marokkaner angehalten, einem Polizisten in Zivil, der ihn nach seinen Papieren fragt und im gleichen Augenblick gegen eine Wand drückt.

Verständlich die Politik der Europäischen Gemeinschaft, das Übel bei der Wurzel packen zu wollen. Man versucht illegale Einreisen zu verhindern. Was in der Praxis bedeutet, dass die Grenze ein wenig südwärts verschoben wird; Marokko erhält Geld, um das Problem an Ort und Stelle zu lösen. Und Marokko tut dies auf seine Weise.

Der Mann bricht seitwärts aus, versucht zu entkommen. Aber damit hat der Polizist bereits gerechnet. Er packt ihn brutal, und ehe sich der Mann versieht, steckt er in Handschellen.

Dann gehen sie durch die gleichgültige Menge davon. Was soll’s, ein Schwarzer mehr, den sie erwischt haben, alle wissen, was jetzt kommt. Der Polizist spricht mit dem Schwarzen, stößt ihn vorwärts, verpasst ihm sanfte Klapse auf den Hinterkopf: die übliche Erniedrigungsmethode. Wenn er Geld hat, den Polizisten zu bestechen, kommt er vielleicht ungeschoren davon, sagen die einen. Wenn er hier in Tanger ist, dann nur, weil er Geld hat, sagen die anderen. Sonst wäre er in Missnana untergetaucht.

Alle wissen, was ihn erwartet, wenn er kein Geld hat: Gefängnis, 25 Mann in einer verpesteten Zelle, ein Eimer für die Bedürfnisse aller, ein Teller Wassersuppe pro Tag. Anschließend … Oujda, in der Welt der camarades ein noch schrecklicheres Wort als Missnana. Oujda, an der marokkanisch-algerischen Grenze.

Man "deportiert" sie, in Lastwagen, zu Hunderten. Männer, Frauen, Kinder, die, bis auf ihre Kleider am Leib, nichts bei sich haben. In verschlossenen Transportern geht es per Express in den Tod, unaufhaltsam, wie damals, in den Waggons nach Auschwitz.

Sie werden nicht in ihre Ursprungsländer abgeschoben, sondern zurückgebracht, auf die andere Seite der Tür, durch die sie gekommen sind, in die Gegend von Oujda. Hinter der Grenze, im Niemandsland zwischen Marokko und Algerien (das sie ebenfalls nicht aufnimmt), dort, mitten in der Wüste, werden die camarades ausgeladen.

In einem unwirtlichen, menschenleeren Landstrich, glühendheiß bei Tag und eiskalt bei Nacht. Dort irren die camarades halb verhungert, wie Zombies, durch die Sandstürme, verrotten zu Tausenden. Dort kreuzen sich Tag für Tag die Flüchtlingsströme aus dem Süden mit denen der "Deportierten" aus dem Norden. Dort sterben sie, auch wenn keiner zum Sterben gekommen ist. Es gibt nur einen Weg: Tanger. Wer über die Grenze will, muss 250 Dollar an die Mafia zahlen. Mit dem Auto 500 mehr, die keiner hat. Die meisten gehen zu Fuß, folgen den Stromleitungsmasten. Es kann Wochen dauern, oder Monate. Von einem Kreis der Hölle zum nächsten.

Der Schlaf ist immer leicht in Missnana. Auf den ersten Blick sieht alles ganz normal aus. Edith kocht in einem großen Topf Mehlsuppe, die Tagesration für die ungefähr 30 camarades in diesem "Busch". Überall in diesem riesigen, verfilzten Pinienwald, der sich in der Gegend von Tanger über vier Berge erstreckt, ist in den mehr als hundert "Büschen", in denen über 3 000 Subsaharer ein illegales Dasein fristen, das Kochen Sache der Frauen.

"Schaut mal, was ich aufgetrieben habe!" Kingsley wirft eine zwei Handbreit große, noch lebende Schildkröte auf die Decke.

"Ohne mich!", erklärt Edith. Kingsley und Livingstone lachen. Das meint sie nicht ernst. Heute wird es etwas anderes geben als die übliche Mehlsuppe oder den üblichen Tomatenreis. "Hundefleisch hat erwiesenermaßen weniger Schadstoffe als Rindfleisch", erklärt uns Kingsley mit dem Brustton wissenschaftlicher Nüchternheit.

Livingstone und Benjamin greifen nach ihren großen Flaschen und gehen zur Quelle, um Wasser zu holen. Ein paar Leute begrüßen einen alten Marokkaner, der sich mit seinem Esel in den "Busch" gewagt hat, um einen Sack Mehl zu verkaufen. Andere machen sich mit einem Sack voller Handys auf den Weg in das Dorf Rah Rah, um sie dort in einem vertrauenswürdigen Geschäft aufzuladen.

Aber die geringste Unachtsamkeit kann zum Verhängnis werden. Vorsicht, camarades! Das Leben bezaubert und benebelt mit seiner tagtäglichen Routine. Ist vielleicht nur ein Trugbild. Eine Illusion.

Mindestens einmal pro Woche fällt die Polizei über den Wald her. Sie kommen im Morgengrauen, ganze Hundertschaften, Polizisten und Soldaten, und kämmen das Unterholz durch, von einem Ende zum anderen, gründlich wie Hühnerhunde. Sie haben Waffen bei sich und eine Horde willfähriger Marokkaner im Gefolge, vorgebliche Informanten und Spurensucher. Für sie eine Treibjagd. Für die camarades der Horror. Sie ergreifen die Flucht, in wilder Panik, wie Tiere, stürzen ins Gestrüpp, in die Brombeerhecken, die Dornen, zerreißen, zerfetzen ihr Fleisch, ihre dunkle Haut, die sich blutrot färbt. Zu oft umsonst. Bei jeder Razzia gehen der Polizei Hunderte camarades ins Netz. Erst kommt das Gefängnis, dann die "Deportation" nach Oujda. Das kennen hier fast alle. Es gehört zum Leben in Missnana. Nasko wurde fünfmal "deportiert". Er ist immer wieder zurückgekommen. Zweimal mit dem Wagen, dreimal zu Fuß, wie auch beim letzten Mal. Er hat ganze 21 Tage gebraucht. Hamilton wurde zweimal nach Oujda "deportiert", und einmal richtig: von Spanien nach Nigeria. Er hatte es bis nach Europa geschafft, wurde dann aber gefasst. Also fing er wieder bei Null an. Die einzige Möglichkeit. Die reinste Sisyphusarbeit. Tragisch und zugleich banal.

Aber die Polizei ist nicht die einzige Gefahr in Missnana, und auch nicht die schlimmste. Sie ist zwar mächtig, aber die camarades haben gelernt, sich zu wehren. In der Altstadt von Tanger arbeiten Spione für sie, ihnen nahestehende Leute. Sie haben herausgefunden, dass die Razzien immer montags, dienstags oder mittwochs im Morgengrauen stattfinden, und haben sich entsprechend organisiert. An diesen drei Tagen geht jeder seiner Wege und verlässt bei Einbruch der Dunkelheit seinen "Busch", um nach einem möglichst weit entfernten und unzugänglichen Versteck zu suchen. Bodenmulden von Wildschweinen, dichtes Gestrüpp oder ein Loch, das man sich ins Erdreich gräbt. Dort harren sie dann jeder für sich, schweigend und reglos, aus, bis zum nächsten Tag, 14 Uhr.

Seid auf der Hut, camarades! Die größte Gefahr sind jetzt die marokkanischen Horden. Sie greifen mit und ohne Polizei an. Sind mit Messern bewaffnet und kommen, um zu stehlen. Und um zu töten und Frauen zu vergewaltigen. Sie wissen, dass die camarades Geld haben, andernfalls könnten sie die horrende Summe für die illegale Fahrt über die Straße von Gibraltar nicht zahlen. Und sie haben Handys. Sie sind reich, verglichen mit der Mehrzahl der Marokkaner aus den umliegenden Dörfern. Und sie sind im Nachteil. Sie haben keine Papiere und können sich bei niemandem beschweren. Eine leichte Beute. Vor allem, wenn sie zu zweit oder zu dritt sind. Aber sind sie zu mehreren oder geht es um Überfälle im "Busch" selbst, braucht es kleine schlagkräftige Trupps. Die stellen sie an den Wochenenden auf - und verbinden das Angenehme mit dem Nützlichen. Eine Art Extremsport. Die Familien dürfen nichts davon wissen. Männersache.

Die camarades zeigen uns ihre Verletzungen, an den Beinen und am Rücken. Tiefe, noch frische Stichwunden, die von großen Küchenmessern herrühren. Früher kam so etwas hin und wieder vor, jetzt ist es an der Tagesordnung. Sie reden von nichts anderem in Missnana, es ist wie ein Kriegsschrei, der von "Busch" zu "Busch" hallt.

Als es dunkel wird, gehen wir durch den Wald, von Feuerstelle zu Feuerstelle, mit Isaias, dem Pastor der Pfingstler, dem obersten Gottesmann der ganzen Gemeinde. Die camarades kommen und beklagen sich bei ihm, lauthals, mit blutunterlaufenen Augen. Sie versuchen nicht einmal mehr die Waffen vor ihm zu verbergen, die sie erbeutet haben und jetzt im Gürtel tragen. Nicht einmal Isaias’ moralische Autorität vermag die Gewalt einzudämmen, die ein bitteres Gemisch aus Hunger, Krankheit und Verzweiflung zum Brodeln bringt.

Die camarades sind auf der Hut. Haben sich zu Gruppen zusammengeschlossen, tragen große Prügel bei sich, wählen mit Bedacht ihre "geheimen Wege". Sie sind mit Messern bewaffnet und mit Schwertern, und sie schlafen kaum noch. Der Tod in Missnana hat einen leichten Schlaf.


Juliete, die Schwester des Pastors, erinnert sich an die vielen Vormittage, die sie montags, dienstags und mittwochs in einem Erdloch im Wald von Tanger verbrachte. "Ich hatte immer die Bibel bei mir, hockte stundenlang da und las und war voller Angst." Sie erinnert sich daran, wie sie das erste Mal versuchte, über die Straße von Gibraltar zu kommen, und wie sie der marokkanischen Polizei mitten auf See ins Netz ging. Und als sie sich an Oujda erinnert und die Rückkehr nach Missnana, klingt erstaunlicherweise so etwas an wie Wehmut. Damals fühlte sie sich noch privilegiert, anders als andere Frauen oder alle Männer hatte sie einen "Vertrag". Sie musste an keiner der "Stationen" je lange warten (mit Ausnahme der acht Monate in Missnana), das zum Überwinden der einzelnen Teilstrekken notwendige Geld gelangte immer in ihre Hände. Während andere starben oder in Oujda oder an einer "Station" mitten in Mali vergessen wurden, wurde sie immer im letzten Augenblick von der "Organisation" gerettet. Sie fühlte sich beschützt.

Nun ist Juliete seit vier Monaten in Europa, und das Gefühl, mit Leib und Seele einer schützenden Institution anzugehören, ist geblieben, trotz des Schocks, den ihr die neue Wirklichkeit versetzt hat. Sie ist über einen seltsamen, wenn auch unmissverständlichen Pakt an diese Institution gebunden.

Juliete hatte zusammen mit ihrer Mutter und einer Tante das Büro eines Anwalts in Benin City aufgesucht. Sie war nervös gewesen und zugleich voll freudiger Erwartung, bald würden sich ihr die Tore einer neuen Welt auftun. Der Anwalt hatte den "Vertrag" bereits fertig vorliegen, einen mehrere Seiten umfassenden Vordruck mit dem Stempel der Organisation - der Task force. Das Durchlesen erübrigte sich. Schließlich kannten alle den Inhalt der fragwürdigen Vereinbarung: Die Task force verpflichtete sich, Juliete in ein europäisches Land zu bringen und ihr dort Arbeit zu beschaffen. Dafür verpflichtete wiederum Juliete sich, ihren Arbeitslohn, abzüglich dessen, was sie zum Überleben braucht, so lange in wöchentlichen Raten an die Organisation abzuführen, bis ihre Schuld von 40 000 Dollar getilgt ist. Bis dahin ist sie Eigentum der Task force, die über ihr Leben verfügt, mittels einer "Dame", der sie das Geld abliefert und die ihre gesamten Aktivitäten überwacht. Allerdings beschreibt der "Vertrag" diese Aktivitäten nicht näher. Juliete wurde lediglich gesagt, sie hätte Männer zu begleiten, und alle, bis auf sie, wussten, was das heißt.

Mit verlogen legalistischem Winkelzug wurde ferner festgesetzt, dass die Task force der jungen Frau und ihrer Familie in jeder Hinsicht Schutz gewährt, allerdings umgehend davon absieht, sofern die Vertragspartnerin den genannten Verpflichtungen nicht nachkommt. Im Klartext: Wenn die Sklavin nicht pünktlich zahlt, hat ihre Familie in Benin City unverzüglich mit drastischen Vergeltungsmaßnahmen zu rechnen.

Rechtmäßig unterzeichnet und nicht selten zusätzlich durch ein Voodoo-Ritual besiegelt, wird der "Vertrag" zu einem Bündnis, das keine junge Frau den Mut hat zu lösen.


Grace zum Beispiel, die einen solchen Vertrag eingegangen war und in Missnana darauf wartete, an Bord eines zodiacs gehen zu können, wurde während einer der üblichen Polizeirazzien am Bein verletzt. Als man sie Wochen später endlich ins Krankenhaus bringen konnte, erfuhr sie, dass eine Amputation lebensnotwendig war. Sie geriet in Panik, nicht aus Angst um sich, sondern aus Angst, die "Chefs" könnten schlecht von ihr denken. Man setzte sich mit der Task force in Verbindung, die eine Amputation klar ablehnte. Ob Graçe starb, war unerheblich - eine Frau ohne Fuß ist wertlos.

Dank des Einsatzes eines NGO-Vertreters erklärte sich die "Organisation" schließlich bereit, den Vertrag außer Kraft zu setzen. Grace konnte gerettet werden, zeigte sich aber wenig dankbar. Deprimiert, dass sie ihren "Vertrag" nicht hat erfüllen können, lebt sie heute abgeschieden im Ordenshaus der Mutter Theresa in Tanger.

Die Task force, eine der beiden großen Mafia- Organisationen, die den Handel mit Prostituierten in Nigeria kontrollieren, hat überall in Europa Vertreter, an die sich die jungen Frauen, sobald sie in Algeciras sind, telefonisch wenden müssen. Sie verteilen sie über die verschiedenen Länder und machen sie mit den entsprechenden "Damen" bekannt, ihrerseits ehemalige Prostituierte, die inzwischen für die "Organisation" arbeiten. Sie treten als elegante Geschäftsfrauen auf und sind ständig auf Reisen.

"Meine ‘Mutter’ ist jetzt hier", sagt Juliete. So schwer es uns auch fällt, wir müssen zugeben, dass in ihrem Gesicht bei diesen Worten Stolz und trotzige Zuneigung zum Ausdruck kommen. "Meine ‘Mutter’ ist jetzt hier." Als müsste man sich nur seinem Schicksal, so unwürdig es auch sei, stellen, um Würde zu erlangen.

"Haltet euer Leben fest", rief Julietes Bruder, Pastor Isaias, im Sonntagsgottesdienst, bei dem sie nie fehlte, in Missnana. Isaias hob seine Hände wie Krallen, und Hunderte von singenden Menschen taten es ihm gleich.

"Die Bibel sagt, wer glaubt, ist unverwundbar. Wir können es mit jeder Herausforderung aufnehmen. Wir sind unbesiegbar. Haltet euer Leben fest!"

Ein ängstliches Flackern wird in Julietes Augen sichtbar, eine Eifersucht, wie sie nur die eines jungen Menschen sein kann, dem das Leben davonläuft. Halt es fest!

Fortsetzung folgt