(2. WEITERE ASPEKTE/ GEDANKENSPLITTER ZUM PROFIL DES 'ZIVILISATIONSMÜDEN' EUROPATOURISTEN)

Hallo El Berr!

In Tiznit, im Cafe 'El Sahara' am Mechouar, habe ich bei meiner Rast den Günter getroffen, einen Architekten aus dem Ostteil der Stadt Berlin.

Günter hatte sich in Tiznit das Minarett der 'Grossen Moschee' angeschaut.
Er war ganz begeistert vom Oulad Jarrar, von den Proportionen des schlanken Minaretts und von den Stangen, die aus dem Turm ragen.
Wie er mir sagte, sollen sich dort die Seelen der Verstorbenen ausruhen!
Ein irdischer Aufenthaltsort für die Unsterblichkeit des Menschen? Ein Symbol des Islam? Ein Meditationsort auch für 'Zivilisationsmüde'?
Mach' mich wissend, El Berr!

Günter kam - angeregt durch die Besichtigung des Minaretts - sofort auf den Alexanderplatz in Berlin zu sprechen.
Da er etliche Jahre mit H. Henselmann, dem 'Schöpfer' des 365 m hohen Fernsehturmes auf diesem Platz zusammengearbeitet hatte, fing er an, mir dessen städtebauliche Theorie der 'Iconic - Signs' zu erklären.

Und das mitten in Marokko!!! und ausgerechnet bei einem köstlichen 'Minze'!
Und wo ich doch überhaupt kein Anhänger dieser 'Theorie' bin! - mich jahrelang eher mit der System- und der Chaostheorie sowie deren Übertragungsmöglichkeiten auf die Stadt- und Regionalwissenschaften beschäftigt habe.
Ausserdem hätte ich lieber nach meinem 'Cherokee' geschaut, der von einer dichten Menschenmenge umringt war!

Nun, Henselmann wollte alle wichtigen und grossen Städte der ehemaligen DDR mit symbolischer und dominanter Vertikalität ausstatten, mit 'symbolischen' Zeichen, die 'in den Himmel' ragen sollten, mit "Kathedralen des Sozialismus" - wie er selbst bemerkte - mit Zeichen einer 'neuen, sozialistischen Zeit'.
Konkret sahen Henselmanns Pläne so aus: für Magdeburg als Schwerpunkt des Maschinenbaus sollte ein Hochhaus in Form einer Schraube entstehen (nicht realisiert); für die Universitätsstadt Leipzig ein Hochhaus in Form eines aufgeschlagenen Buches (realisiert); für die Wissenschafts- und Industriestadt Jena ein Hochhaus in Form eines runden Turmes (der 'penis jenensis', wie er zynisch sagte, wohl wissend um die Impotenz der 'DDR'-Industrie - ebenfalls realisiert); für Plauen ein 'Volkshaus' in Form der weltbekannten 'Plauener Spitze' (nicht realisiert); für die an der Ostsee gelegene Hansestadt Rostock eine Hochhausdominante in Form eines Segels (nicht realisiert) und für Berlin eben den gigantischen 'Telespargel' (realisiert): Funk- und Sendeturm für die Botschaft des Sozialismus in alle Welt - aber was für einen Inhalt hätte diese Botschaft haben sollen?
Wenn es total nach dem Architekten Henselmann gegangen wäre, wäre Ostdeutschland heute ein Zoologischer Garten mit semantisch-unverständlichen Grossstadt-Symbolen.

Eine Seele einhauchen konnte man dem Alexanderplatz mit diesem formalen Symbolismus natürlich nicht!
Alfred Döblin hat die Seele des Alexanderplatzes in den 20-er Jahren und in den Jahren der Weltwirtschaftskrise treffend beschrieben!
Nach dem 2. Weltkrieg war der Platz 'gemordet', eine einzige Trümmerwüste, erhalten war nur noch die städtische 'Empfangssituation', d.h. die zwei von dem Architekten P. Behrens genial entworfenen Baukörper in Form einer frei modellierten Torsituation, die das von der S-Bahn kommende Volk sanft aber zielstrebig und direkt zum Platze - auch heute noch - hinführen.
Der Platz wurde dann nach den Plänen Henselmanns und seiner dienernden - und sich der Parteispitze andienenden - oder später sich 'modern' gebärdenden, Symbole nachahmenden Architekturvasallen und 'Schüler' umgestaltet; und heute - 10 Jahre nach der 'Wende' und 'konsumgesellschaftlich korrekter Funktionsanreicherung' - ist er Prototyp eines langweiligen, verödeten Platzes unserer kapitalistisch dominierten Zeit - zudem ideologischer Wallfahrtsort von 'DDR'-Nostalgikern - der nach den 'Visionen' von Architekt Kollhoff sogar mit einer 'Armada' von Hochhäusern ausgestattet werden soll, getreu dem Motto: Was ein einzelner Fernsehturm auf dem Alexanderplatz nicht vermag, 15 Hochhäuser werden es schon schaffen!!! (downtown Chicago/ schlimmer noch LA/ lässt grüssen!)

Tatsächlich wollten aber die Westberliner Architekten der 'Nachwendezeit' - und nicht die Ostberliner Bürger - den Fernsehturm abreissen (welch' gewaltige Demonstration deutscher Finanzkraft wäre das gewesen! - und wir hätten das ohne weiteres auch finanziell durchgestanden! Triumph der Ökonomie über die Ideologie!), um in nostalgisch konzipierten Entwürfen dieses ehemalige Ostberliner Merkzeichen I. Ordnung verschwinden zu lassen.
Allah sei Dank - die ökonomische Vernunft hat schliesslich gesiegt über den 'ideologiegesättigten' Streit drittrangiger Architekturkritiker!

Das erstmal für heute! Später mehr - auch und insbesondere zu Alfreds Ansichten.

Eines interessiert mich aber brennend: Alfred sagt mit Recht, dass Hassan II. von 1961 bis 1999 geherrscht hat. 38 Jahre - eine sehr lange Zeit!
Er sagt aber auch, dass Hassan in einem Land geherrscht hat, das sich nie beherrschen liess.
Was bedeutet dann aber 'Herrschaft' unter solchen Bedingungen? Ein einziges grandioses Missverständnis - beiderseits?

Hast Du Genaueres über das Gespräch zwischen Azoulay und Ramonet erfahren können? Hat Ramonet tatsächlich so schnell das Thema auf den Jemaa el-Fna bringen können?

P.S.
Ich denke, dass ich - wenn wir das Profil des 'zivilisationsmüden Touristen' unterfüttert haben - mich der System- und Chaostheorie zuwenden kann.
Vielleicht hast Du die Kraft, auch schonmal 'Dein virtuelles Profil' zu skizzieren?
Muss aber nicht sein! Weiter so! Deine Anregungen allein sind schon genial!

Mit vielen Grüssen nach Essaouira
(bist Du dort etwa im beneidenswerten Urlaub?):
Peter.