Nachstehender Beitrag ist insofern lesenswert, weil Theologen, Historiker die Aussagen der Bibel ebenfalls im Kontext der seinerzeitigen Zeit versuchen zu betrachten. Ein MUSS, um viele, viele fragwürdige Aussagen "einordnen" zu können.

Islamkritik
Papst-Rede fordert islamische Reformer heraus
Moderate Geistliche wollen den Koran in seinem historischen Kontext verstanden wissen und ihn an die Moderne anpassen.
Von Boris Kalnoky

Istanbul - Am 15. September veröffentlichte die italienische Zeitung Corriere della Sera einen Leitartikel von Magdi Allam, Muslim und einer der angesehensten Kommentatoren des Landes. Er stellte fest, dass die Muslime sich zu einer Front gegen den Papst zusammengeschlossen hätten und damit bewiesen, dass die Wurzel des Übels eine "blinde Ideologie des Hasses unter Muslimen" sei, eine Ideologie, die "den Glauben verletzt und den Geist verdunkelt. Wie kommt es, dass Muslime, besonders die sogenannten Gemäßigten unter ihnen, sich nie mit ähnlichem Eifer gegen die wahren Verächter des Islam erheben, die islamischen Terroristen (...)?"
Allam nannte es eine "tragische Realität", dass es extremen Strömungen des Islam im öffentlichen Diskurs gelungen sei, einen Konsens zu verfestigen in den Köpfen der Mehrheit der Muslime, "deren Gedanken verdunkelt sind durch anti-amerikanische, antiwestliche" Haltungen und die Ablehnung "des Existenzrechtes Israels". Das Problem jedoch, so schrieb er, sei gänzlich das interne Problem "eines Islam, der von Extremisten verwandelt wird von einem Glauben an Gott in eine Ideologie, die eine totalitäre und theokratische Macht all jenen aufzwingen will, die nicht so sind, wie sie." Es mache ihm Angst, zu sehen, wie selbst gemäßigte Muslime sich diesem "Heiligen Krieg" (gegen den Westen) anschließen, "dessen hauptsächliche Opfer sie selbst sein werden."
Tatsächlich sind Millionen Muslime während des Karikaturenstreits gegen ein paar Zeichner zu Felde gezogen, während es eine vergleichbare weltweite Explosion muslimischen Zornes gegen Osama Bin Laden als Schänder des Islam nicht gegeben hat. Es ist auch klar, dass ein extremeres Verständnis des Islam seit Jahren stetig an Zulauf gewinnt. Die Schlussfolgerung, die friedliche Mehrheit der Muslime schaufele sich mit ihrer schwächlichen Gegenwehr dem Islam als Religion des Friedens das eigene Grab, ist also nicht von der Hand zu weisen.
Anders als die Zeichner der Karikaturen suchte Benedikt XVI. nicht die Provokation, sondern eine inhaltliche Debatte zum Thema Islam und Gewalt. Die meisten Reaktionen aus der muslimischen Welt sind nicht auf das Angebot eingegangen, dennoch scheinen manche muslimische Theologen nun zu erkennen, dass man inhaltlich auf den Gewaltvorwurf antworten müsse.
Das geht nur unter Bezug auf problematische Korantexte, die zum Töten aufrufen. Sie müssen deutlicher erklärt werden, nicht nur der Welt, die sich fragt, aus welchen kulturellen Wurzeln islamistischer Terror sprießt, sondern den Muslimen selbst - um jene, die anfällig sind für die Verlockungen der Gewalt, vor Missverständnissen zu bewahren.
Mohammed Sayed Tantawi, Großscheich der Kairoer Al-Azhar-Universität, äußerte sich zwar "entrüstet" über die Äußerungen des Papstes, berief aber zugleich eine Dringlichkeitssitzung des Rates für islamische Studien ein, um eine Erwiderung auf die Worte Benedikts XVI. zu verfassen. Wenn diese Schrift Erklärungen zu Koransuren enthält wie der neunten, Vers 5, in der dazu aufgerufen wird, die Ungläubigen zu bekämpfen, es sei denn, sie nehmen den wahren Glauben an, dann kommt auch die innermuslimische Debatte vielleicht einen Schritt voran.
Im Herzen der Reformdebatte steht der Gedanke einer Beurteilung der Korantexte in ihrem historischen Kontext. Diese Richtung verfolgen muslimische Reform-Theologen wie Fazlur Rahman schon seit vielen Jahren, sie haben jedoch in der muslimischen Welt meist einen schweren Stand und gelten oft als Verräter. Rahman musste sich angeblich von Benedikt XVI. auf einem nicht-öffentlichen theologischen Seminar vor einem Jahr gar sagen lassen, dass der Islam seinem Wesen nach zu einer solchen Relativierung des Koran nicht fähig sei, weil (dem Islam zufolge) die Worte des Koran von Gott selbst gegeben und daher nicht relativierbar sind.
Muslimische Reform-Theologen widersprechen dieser Haltung (die auch dem klassischen sunnitischen Dogma entspricht, Schiiten hingegen sehen den Koran als interpretationsbedürftig an). Sie sagen, man könne den Koran in zwei Kategorien von Aussagen teilen: Jene, die eher kosmologischer Natur sind, und jene, die in der Zeit entstanden, als Mohammed der Herrscher Medinas war. Solche Suren enthalten politische und juristische Sentenzen, die den Reformern zufolge heute so nicht mehr angewendet werden können.
Ein Land, in dem der sunnitische Islam dieser Richtlinie folgt, ist seit langem die Türkei. Ali Bardakoglu, Leiter der türkischen Religionsbehörde Diyanet, sagte der WELT, Suren wie die Neunte, Vers 5 dürften nur im "historischen Kontext gesehen werden. Jede Sure ist auf ein Ereignis hin offenbart worden, um eine bestimmte Idee zu verdeutlichen". Das sei im Fall dieser Sure das Prinzip der Selbstverteidigung, wenn Muslime angegriffen würden.
Selbst eine solche Auslegung bleibt problematisch. Was stellt einen Angriff auf Muslime dar? Schon die bloße Existenz Israels? Bardakoglu sagt auch, der Dschihad (Heiliger Krieg) sei legitim, wenn Ungläubige die "natürliche Ausweitung des Islam verhindern." Diese natürliche Ausweitung soll durch Rede und Vernunft erfolgen, durch Missionierung also - aber umgekehrt dulden die meisten muslimischen Länder keine Missionierung durch Christen.
Vielleicht hat der Papst die Debatte in der islamischen Welt mit seiner Rede beschleunigt.
Artikel erschienen am 18.09.2006 in der „Welt“