Keine Huris im Paradies

Wurde der Koran-Text falsch überliefert? Nicht Jungfrauen, sondern „weiße Trauben“ warten auf den Muslim im Jenseits. Ein deutscher Wissenschaftler hat frühe Textfragmente untersucht. Seine Quellenkritik bedroht die islamische Theologie

Im letzten Jahrhundert rückte die Textkritik der Bibel zu Leibe. Kommt nun der Koran an die Reihe? Islamische Gelehrte haben begonnen, die amtliche Version von der Urgeschichte des Korans infrage zu stellen. Der Koran ist für die Muslime das Wort Gottes, der durch den Erzengel Gabriel in „klarer arabischer Sprache“ zum Propheten gesprochen hat. Das Bekenntnis zum „ungeschaffenen“ und „unnachahmlichen“ Koran ist nicht nur Sache der so genannten Fundamentalisten, sondern jedes rechtgläubigen Muslims.

Diese Lehre ist unter Druck geraten. Westliche Beobachter sprechen schon von einer Welle des „islamischen Protestantismus“ – etwas voreilig vielleicht. In der islamischen Welt sind die liberalen Theologen mit ihrem differenzierten Blick auf Entstehung und Struktur des Koran-Textes hoffnungslos isoliert. Es hilft ihnen gar nichts, dass sie meist fromme Männer sind, die einen authentischen Zugang zu ihrem zentralen Glaubensdokument suchen. Wer nicht hingerichtet wurde wie der Sudanese Mahmoud Taha, wer nicht ins westliche Exil fliehen konnte wie der Ägypter Nasser Abu Zaid, der muss wie der Iraner Abbdolkarim Sorusch in Angst vor den Schlägertrupps der Gesinnungswächter leben.

Mitten hinein in diesen ungleichen Kampf zwischen Liberalen und Orthodoxen hat ein deutscher Gelehrter ein Buch geworfen, das auf dem besten Weg ist, weltweit Furore zu machen. Der Mann zieht es vor, sich Christoph Luxenberg zu nennen – ein Pseudonym. „Meine arabischen Freunde“, sagt er, „haben mir dazu geraten, nachdem sie meine Thesen kannten.“ Der promovierte Semitist – also Fachmann für alte semitische Sprachen, insbesondere das Aramäische – hat gut daran getan, auf seine Freunde zu hören. Sollte seine Methode sich durchsetzen, entstünde nicht weniger als ein grundlegend neues Verständnis des Korans.

Luxenberg kann zeigen, dass der Koran an vielen Stellen von den arabischen Kommentatoren fehlgelesen und missdeutet wurde. Viele dunkle Stellen, die in über 1000 Jahren der Arbeit am heiligen Text selbst für arabische native speakers rätselhaft blieben, kann Luxenberg erhellen. Der Clou seiner Arbeit: Der Text des Korans zeigt sich in ungeahntem Maße von syrisch-christlichen Elementen durchwebt.

Die dunklen Stellen des Korans lassen sich aufhellen

Einige Neudeutungen Luxenbergs haben auch für den Laien sofort erkennbar ungeheure Brisanz. So klärt er zum Beispiel das Rätsel der Paradiesjungfrauen auf, der „großäugigen Huris“, die vermeintlich auf die Gottesfürchtigen im Paradies warten. Über die Sinnlichkeit der jenseitigen Männerfantasien haben sich schon seit je die Kommentatoren gewundert. Keine Religion des vorderasiatischen Raumes wusste ihren Gläubigen Derartiges zu versprechen, wie es etwa die Suren 44 und 52 tun. Für die christliche Polemik gegen den Islam waren die entsprechenden Stellen immer willkommen. Nach Luxenbergs Erkenntnissen laufen diese Angriffe ins Leere. Der Koran spricht nämlich gar nicht von Jungfrauen. Luxenberg zeigt, dass die Huris in Wirklichkeit nichts anderes sind als „weiße, kristallklare Trauben“, Früchte, die in den Paradiesvorstellungen des Orients von alters her als Sinnbild von Wohlleben und Behaglichkeit galten.

Das ist eine schlechte Nachricht für jene, die den Koran politisch missbrauchen: Mit der Vision von den willigen Huris werden junge Männer fürs Märtyrertum geködert. Für alle, die an einer Klärung des Koran-Textes interessiert sind, sollte die stimmigere Lesart ein Grund zur Freude sein. Freilich ist die Sache nicht so einfach. Radikale Revisionen wie diese lösen naturgemäß höchst gemischte Gefühle aus, und zwar bei frommen Muslimen ebenso wie bei der etablierten Islam-Wissenschaft.

Hinter dem Decknamen Luxenberg – der manchen an den Mythenzerstörer Lichtenberg erinnern mag – steckt kein Polemiker, sondern ein strenger Philologe. Er hat seine Forschungen nicht sensationsheischend vermarktet. Seine Studie trägt den graumäusigen Titel: Die syro-aramäische Lesart des Korans. Ein Beitrag zur Entschlüsselung der Koransprache. Die Fachwelt hat gleichwohl erkannt, welcher Sprengstoff sich in den philologischen Erörterungen verbirgt. Die erste Reaktion war blanke Angst.

Fast nämlich hätte Luxenbergs Buch das Licht der Öffentlichkeit nicht erblickt. Die großen akademischen Verlage zogen sich nach anfänglichem Interesse mit dezentem Hinweis auf die Verfolgung von Salman Rushdie zurück. Ende 2000 kam Luxenburgs Werk in einem mutigen Berliner Kleinverlag namens Das Arabische Buch heraus, ohne große Hoffnung auf öffentliches Interesse. Inzwischen ist der Verlag pleite, das Buch wird aber von seinem Nachfolger, dem Schiler Verlag, weiter ausgeliefert.

Den etablierten Verlagen wird ihre vorauseilende Feigheit mittlerweile leid tun. Der erste Weltkongress der Orientalisten widmete Luxenberg im letzten Herbst in Mainz ein eigenes Symposium. Der Guardian, die New York Times und kürzlich auch Le Monde haben prominent über Luxenberg berichtet, sehr ungewöhnlich für einen deutschsprachigen akademischen Titel von solcher Entlegenheit. Der Philosoph Rémi Brague, ein führender Spezialist für die arabische Philosophie des Mittelalters, widmet Luxenberg einen langen, euphorischen Essay im Aprilheft der Zeitschrift Critique. Am weitesten geht die semitistische Fachzeitschrift Hugoye (Januar 2003): „In der Geschichte der Koran-Forschung ist ein solches Buch noch nicht vorgekommen. Ähnliches gibt es bisher nur im Bereich der textkritischen Bibelauslegung. Ob Luxenberg in jedem Detail Recht hat oder nicht – mit seinem Buch hat er in der Auslegung des Koran die ‚kritische Wendung‘ gebracht, die die Bibelkommentatoren vor mehr als einem Jahrhundert nahmen.“ Die Berliner Koran-Expertin Angelika Neuwirth dämpft diesen Überschwang: „Luxenbergs Linguistik ist altmodisch positivistisch.“ Aber auch sie anerkennt, dass er mit seinen Thesen „in ein Vakuum der modernen Koranforschung stößt“ und das Buch ein „lehrreicher Stein des Anstoßes sei“.

Bisher gibt es in der Tat keine kritische Ausgabe des Korans – des religiös, kulturell und politisch einflussreichsten Textes der heutigen Welt, nachdem das Kommunistische Manifest diesen Rang eingebüßt hat. Niemand hat die verschiedenen Stimmen, Stile und Textschichten bisher systematisch untersucht, wie es an der Bibel seit dem 19. Jahrhundert geleistet wurde. Dabei ist die Unverständlichkeit vieler Stellen keineswegs nur für Nichtmuslime ein Problem. Sie war bereits dem großen Tabari (838 bis 923), dem berühmtesten Koran-Kommentator der frühen Zeit, in seinem 30-bändigen Tafsir wohl bewusst.

Auch die Islam-Wissenschaft von heute kommt um die dunklen Stellen nicht herum. Navid Kermani hat in seinem preisgekrönten Buch Gott ist schön die Undurchdringlichkeit der Koran-Sprache ins Positive gewendet und eine anspruchsvolle Ästhetik der „Offenheit“ des Korans formuliert. Kermani liest die kryptischen Stellen wie absolute Poesie und kann so Wahrheits- und Echtheitsfragen auf produktive Weise ausklammern. Der Hauptstrom der Forschung aber hat vor dem Rätsel der Koran-Sprache resigniert. Man hat Formeln gefunden, hinter denen es elegant verschwindet. So sagt etwa Hartmut Bobzin, ein führender deutscher Koran-Spezialist von der Universität Erlangen, der Koran werde „gleichsam durch Gewöhnung verständlich, und die altertümliche Form der Sprache wirkt wie Patina, die den religiösen Charakter des Korans in besonderem Maße unterstreicht“. Das ist eine vornehme Formulierung für die wissenschaftliche Kapitulation vor der hergebrachten Lehre.

Christoph Luxenberg bricht radikal mit solcher Genügsamkeit. Er schätzt die dunklen Stellen mittlerweile auf etwa ein Viertel des gesamten Koran-Textes. Je genauer er nämlich – ohne sich durch „Gewöhnung“ ans Unverständliche zu beruhigen – auf den vertrauten Text schaut, umso fremder schaut jener zurück. Luxenberg wirft dabei nicht mutwillig das Wissen der Tradition über Bord. Zunächst sieht er im Tafsir nach, ob sich für seltsame Stellen, Redewendungen oder Worte eine befriedigende Deutung findet. Dann nimmt er den Lisan zur Hand, das klassische Hauptwörterbuch der arabischen Sprache. Erst wenn diese beiden Quellen versagen, versucht Luxenberg seine eigene, die syro-aramäische Lesart.

War die arabische Welt vor Mohammed christianisiert?

Und so ist er auch auf die Lösung des Jungfrauen-Rätsels gekommen. Die berühmten Passagen über die vermeintlichen Huris bauen auf dem Wort hur auf, einem Adjektiv im weiblichen Plural, das im Arabischen lediglich „weiße“ bedeutet. Die arabischen Kommentatoren haben pos-tuliert, dass sich dieses Adjektiv auf „weißäugige“ Jungfrauen beziehen müsse. Luxenberg zeigt nun, dass diese Deutung nichts als Mutmaßung und Wunschdenken ist und dass sie zu inneren Unstimmigkeiten mit anderen Aussagen des Korans über das Paradies führt. Den Gottesfürchtigen wird nämlich an anderer Stelle versprochen, dass sie im Jenseits mit ihren irdischen Gattinnen zusammengeführt werden, um mit ihnen „im Schatten auf Teppichen“ zu lagern. Gattinen und Huris zusammen? Ein Ort, an dem Ehefrauen und Gespielinnen aufeinander treffen, verdient wohl kaum den Namen Paradies. Im Rückgang auf aramäische Quellen lässt sich das Problem lösen: Das Wort hur bezieht sich auf die „weißen Trauben“, typische Paradiesfrüchte der christlich-syrischen Literatur.

Dass aramäische Lehnwörter im Koran vorkommen, ist für sich genommen keine Neuigkeit. Das Wort Koran (qur’an) selbst wird heute weithin als Ableitung vom Aramäischen qeryana betrachtet, was ein „Lektionar“ bezeichnet, ein liturgisches Buch mit Zitaten aus der Heiligen Schrift, Gebeten und dergleichen. Der Einfluss des Aramäischen auf die Koran-Sprache geht aber nach Luxenberg viel weiter. Luxenberg erkennt christlich-syrische Elemente in vielen Suren aus der mekkanischen Periode – Anspielungen auf den Petrus-Brief etwa oder gar auf die Abendmahlsliturgie.

Der Koran enthält in seinen ältesten Partien eine ansehnliche christliche Textschicht. Luxenberg kommt zu dem Schluss, diese Texte bildeten einen „Grundstock, aus dem der Koran als christlich-liturgisches Buch urspünglich bestand“. Das hieße, der Koran hätte in seinen ältesten Elementen nicht den Anspruch, die jüdische und die christliche Verkündigung zu ersetzen und zu überbieten, sondern sie den Arabern nahe zu bringen. Diese starke These wirft spannende Fragen für die Religionshistoriker auf: War Arabien vor Mohammed, war Mekka zumindest gar nicht so heidnisch geprägt, wie die islamische Tradition behauptet, sondern vielmehr bereits stark christianisiert?

Ob diese Schlüsse Luxenbergs Bestand haben werden, muss sich im Fortgang der Fachdebatte zeigen. Fest steht: Das syrisch-christlich geprägte Aramäische war zur Zeit des Propheten die gebildete Weltsprache des Vorderen Orients. Das Hocharabische hingegen und die klassische arabische Schrift entstanden erst später. Die Araber verfügten zunächst nur über ein „defektives“ System zur schriftlichen Aufzeichnung, eine Art Stenografie, die keine Zeichen für kurze Vokale kannte und auch noch nicht die diakritischen Zeichen – jene Punkte und Häkchen, mit denen später die Konsonanten eindeutig festgelegt wurden. Ein Buchstabe der ursprünglich 18 Zeichen umfassenden Schrift konnte bis zu fünf verschiedene Laute bezeichnen. Das System war äußerst vieldeutig und anfällig für Fehllektüren. Die spätere Festlegung durch die diakritischen Zeichen bedeutete darum oft auch eine inhaltliche Festlegung – mithin eine Interpretation.

Gerd-Rüdiger Puin von der Universität des Saarlandes, ein Experte für koranische Kalligrafie, ist überzeugt, dass Luxenberg auf dem richtigen Weg ist. Seine eigenen Forschungen stützen dessen Thesen. Puin hat die ältesten bisher gefundenen Koran-Fragmente untersucht, teils nur 50 Jahre nach dem Tod des Propheten verfasst, die bei Bauarbeiten in der großen Moschee von Sanaa im Jemen gefunden wurden. Als Puin die Funde restaurierte, stieß er auf bedeutende Abweichungen vom späteren, offiziellen Text. Für viele Generationen – das beweisen die Fragmente – blieb der Koran-Text in Bewegung. Die Frühgeschichte sei neu zu schreiben, sagt Puin, „weite Teile des Korans müssen neu gelesen werden“. Der Koran sei ein „Cocktail von Texten“.

Die Fragmente von Sanaa geben einen neuen Einblick in seine Rezeptur. Sie weisen eine Reihe von aramäischen Wörtern auf, die in der rudimentären Schrift der Zeit von arabischen Wörtern nicht zu unterscheiden sind. Aramäisch und Arabisch sind so genannte Nahsprachen. Sie teilen sich eine Fülle von Wörtern mit gleicher Schriftgestalt, aber unterschiedlicher Bedeutung, ähnlich wie etwa die germanischen Sprachen (anbellen bedeutet in Amsterdam „klingeln“). Während der folgenden 100 Jahre, so Puin, erfolgte dann meist eine Festlegung des Sinns in Richtung des Arabischen.

Verschiedene Gründe für diese Entwicklung sind denkbar. Durch die Expansion des arabischen Imperiums wurde Arabisch zur Lingua franca des Nahen Ostens, während das Aramäische in Bedeutungslosigkeit versank und unverständlich wurde. Die späteren Redakteure, die das endgültige Textkorpus des Korans schufen, mussten auch jenen Passagen einen Sinn geben, die sie nicht mehr verstanden. Es mag auch sein, dass Theologie und Politik Hand in Hand gingen und man die Aramäismen bewusst arabisierte, um dem werdenden Großreich eine rein arabische Religion und Sprache zu schaffen, in der fremde Einflüsse unkenntlich gemacht wurden.

Die biblische Textkritik als Vorbild für die Koran-Forschung

Indem Luxenberg diesen Prozess wie ein Detektiv Stück um Stück rückgängig macht, holt er den Koran zurück in den Kontext des religiös so überaus kreativen Milieus seiner Entstehungsregion, in die monotheistische Ursuppe des Nahen Ostens. Patricia Crone, die in Princeton Islam-Wissenschaft lehrt, glaubt zwar auch, dass Luxenbergs Werk „sich als sehr wichtig erweisen wird“, macht sich aber keine Illusionen über den Widerstand, den dieser Ansatz auslösen muss: „Wer möchte im heutigen Klima schon den Koran anrühren? Man beleidigt die Muslime, ganz gleich, was man darüber sagt.“ Stefan Wild von der Universität Bonn, der zu Luxenberg eher kritisch steht, meint, dass schon „viel weniger radikale Annahmen von Parallelen zwischen Koran, Altem Testament und Neuem Testament auf größtes Misstrauen seitens der muslimischen Gelehrten stoßen“. Wild sieht „die Verständigung zwischen muslimischer und nichtmuslimischer Koran-Forschung in höchstem Maße gestört“.

Das mag sein. Aber eine gestörte Kommunikation kann man nicht dadurch reparieren, dass man über Unliebsames erst gar nicht spricht. Wer die andere Seite vor bestimmten Argumenten bewahren zu müssen glaubt, bevormundet sie und hat die Idee einer wirklichen Verständigung schon aufgegeben. In manchen islamistischen Internet-Foren versucht man Luxenberg mit dem Vorwurf zu erledigen, er wolle den Muslimen das Heiligste nehmen. Das ist ein durchsichtiges Manöver. Unterschlagen wird dabei, dass Luxenbergs Werk nicht nur eine Pointe für die Muslime, sondern auch für die Christen hat. Auch sie werden gezwungen, im vermeintlich anderen das Fortleben der eigenen Tradition zu erkennen – und zwar ohne das übliche Kulturdialog-Gequatsche, nur mit den Mitteln der Philologie.

Ob sich die Hoffnung der theologischen Reformer erfüllen kann, einen liberaleren Islam hervorzubringen, der besser mit der modernen Welt klarkommt, hängt gewiss nicht nur von Büchern und Debatten ab. Aber wenn die jüngere Geschichte des Christentums, die mit der biblischen Textkritik begann, hier ein Indiz sein kann, dann sind Luxenbergs Thesen kein Grund zur Angst, sondern ein Anlass zur Hoffnung.

(Quelle: http://www.zeit.de/2003/21/Koran )

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Viele Grüße
Shayma