Liebe Sansabil,

am Bahnhof seine Frau (aus welchem Land auch immer, aus welchen Gründen auch immer) "aufgegriffen" zu haben, sie zu ehelichen und sie aus dem Milieu zu befreien, das sie genötigt hat, am Bahnhof Männerbekanntschaften einzugehen: das muß nicht immer in einem Amoklauf enden: nicht nur die Literatur ist voll von heiligen Huren, auch die Bibel und erst kürzlich wurde der Fall eines jungen Mannes verfilmt, der eine an Aids erkrankte Thailänderin nicht nur lieben gelernt hat, sondern auch deren Familie unterstützt und aus seiner Haltung nicht ableitet, daß er und seine Kultur und seine Religion die überlegenere wäre. Nicht, daß ich selbst gefeit wäre vor Versuchungen, ich habe hier schon mehrfach darauf hingewiesen, daß die grösste Falle für die Liebe zwischen einem Marokkaner(in) und einem/einer Deutschen darin liegt, aus dem eisernen Willen der marokkanischen Gesellschaft/Kultur einen anderen Menschen NICHT zu beleidigen, ihn NICHT zu beschämen, ihm Defekte NICHT vor Augen zu führen, abzuleiten, daß man diese hochstehende Persönlichkeit auch tatsächlich wäre, als die man behandelt wird. Man sollte sich jederzeit bewußt sein, was man mitbringt und auch woran es einem mangelt: dann halten sich Enttäuschungen auf beiden Seiten auch in Grenzen.

Niemals ist jemand durch Kritik zu einem besseren Menschen geworden

Marokkaner haben verinnerlicht (mit der Muttermilch eingesogen), daß noch kein Mensch durch Kritik zum besseren Menschen geworden ist: also bestärkt er seinen Partner, worin er entwicklungsfähig ist und ist darin ein ausgefuchster Beobachter auch minimalster Ungereimtheiten - die er nicht mit lautem Geschrei bloßstellt, möglichst noch coram publico, sondern den anderen sanft darin bestärkt, wenn er nach dem Klogang dann doch tatsächlich mal die rechte statt der linken Hand genommen hat beim gemeinsamen Tajine-Essen mit der bloßen Hand. Nicht, daß er sich nicht fast übergeben musste vorher als man die linke Hand benutzt hat: angemerkt hat man es ihm aber nicht.

Mit dieser Haltung ist auch die marokkanische Gesellschaft insgesamt bisher gut gefahren und sie wird auch weitere arabische Frühlinge in der Nachbarschaft mit dieser Haltung unbehelligt überstehen.

Ich kritisiere also bin ich

Der Deutsche hingegen - mit seiner unsicheren Identität als Deutscher, mit seinem gestörten Nationalgefühl, seinen aufgelösten Familienstrukturen und einer Vergangenheit, die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein von schwarzer Pädagogik geprägt war - kann sich überhaupt nur über Kritik innerhalb seiner Peer-Group behaupten (Kollegen, Ehe-Frauen, Kinder, Nachbarn, Freunde): wo er nicht entwerten und bewerten kann, befürchtet er die Kontrolle zu verlieren und ist gleichzeitig ständig Gehetzter ebendieser Be- und Entwertungen: in keinem Land der Welt boomen die Bewertungsportale in dieser verbissenen Gründlichkeit, wenden so viele Menschen so viel Lebenszeit dafür auf, jedes "Erlebnis" umgehend daraufhin abzutasten, ob sie auch den vollen Gegenwert dessen erhalten haben, wovon sie glauben, daß er ihnen zustehen würde.

Diese Eigenschaft macht sie weltweit zu den meistgehassten Ex-Pats, wie das SZ Magazin in seiner jüngsten Ausgabe festgestellt hat - wie dann nicht auch zu den schlechtesten (Ehe)Partnern?

Die Deutschen gehören gar nicht zum Westen

"Zum westlichen Kern gehören eigentlich nur, in dieser historischen Reihenfolge, Großbritannien, Frankreich, die USA. Deutschland nicht. Ich behaupte: Deutschland hat zur liberalen demokratischen Entwicklung in Europa nichts beigetragen. Die Nachkriegsgeschichte - gut, geschenkt. Aber sie musste von westlichen Siegern in Gang gesetzt werden. Alles davor ist gescheitert." So im Spiegelartikel vom 16.5.2011 "Al-Qaida war schon tot" der Sozialwissenschaftler Emmanuel Todd.

Selbstverständlich ist man als Zwangskonvertierter in Sachen demokratischer Kultur besonders geeignet glaubwürdig Kritik an anderen Kulturen zu üben: immer mit einem stillen Gebet, der andere möge bloß nicht Schreiben und Lesen lernen und entdecken, wie es sich wirklich verhält.

Marokko ist keine einwanderungsfreundliche Gesellschaft

Zum Schluß muß an dieser Stelle auch noch ein anderes grundlegendes Mißverständnis erwähnt werden, das durch die oben beschriebene "Betriebsblindheit" der deutschen Seite noch verstärkt wird: es ist keineswegs so, daß eine marokkanische Familie/die marokkanische Gesellschaft insgesamt auf Einwanderer und Eingeheiratete warten würde: daß die (meisten) Deutschen glauben, sie wären prinzipiell unsichtbar, weil moralisch und ökonomisch überlegen, ist die zweitgrösste Falle in die man als Partner eines Marokkaners rennen kann. Es bedarf unendlich vieler nachdrücklicher, geduldiger und ausdauernder "Beweise" von Verantwortungsgefühl für den Organismus "Großfamilie", einer ebenso grossen Respektsbezeugung was die Religion und die damit zusammenhängenden Sitten und Gebräuche (Ramadan, Gebete, Enthaltsamkeit, Männer- und Frauentrennung) angeht, bis man wirklich angekommen ist - und in manchen Bereichen wird man es trotz allem guten Willen nie sein.

Keines der o.a. Motive (Respektlosigkeit, schlechtes Benehmen, Hybris, Sextourismus) entgeht einem Marokkaner - eine automatische Einbürgung findet nicht statt: wie überall auf der Welt bekommt man auch in Marokko nichts umsonst.

Ehrenamtliche Tätigkeit

In einem Haus wie diesem (dem Marokko-Forum), in dem Marokkaner die Gastgeber sind, spielt sich das o.a. Drama wie in einem gesellschaftlichen Experimentierkasten ab (der einzige Grund, warum ich immer wieder gerne hier vorbeischaue). Ich sehe es als meine vornehmste Aufgabe an immer mal wieder die Haufen auf die Schaufel zu nehmen und mit der Schubkarre außer Hauses zu schaffen, die von meinen Landsleuten als morgendliche Entleerung im Hausflur hinterlassen wurden: wobei es selbstverständlich Najib ist, der hier das Licht am Abend an- und am Morgen wieder ausschaltet.

Daß man diese Hausmeistertätigkeit jetzt zunehmend auch für Österreicher tun muß, wird sich allerdings nicht durchhalten lassen: hier baue ich auf ein paar schweizerische User bzw. würde gerne diejenigen Marokkaner reaktiviert sehen, die diesem extrem exotischen Kulturkreis Österreich auf Augenhöhe und mit gleicher Münze herausgeben können.

Demut

Die im obigen Posting von Najib erwähnte (völig unzeitgemässe, ja geradezu aufreizend altmodische) Demut, die es ihm erlaubt seit 25 Jahren in Frieden und mit zahlreichen Nachkommen gesegnet in Marokko wohlgelitten zu sein, sei allen anempfohlen, die mit ihrem Schicksal als bi-nationaler Partner/in hadern und/oder von Marokkanern sich nicht genügend respektiert glauben.

Ohne Demut allerdings kann man derzeit nicht mehr dafür garantieren, daß nicht doch dem Gastgeber mal der Geduldsfaden reißt und man mit dem Gesicht nach vorne in den Angstschiß gedrückt wird - den man spätestens dann nicht mehr im Hausflur seines Gastgebers absetzen wird, wenn sich der arabische Frühling gegen Ex-Pats, Missionäre und Vergewaltiger richtet (und nicht gegen den eigenen Monarchen wie hier immer wieder versucht wird zu suggerieren, um nicht zu sagen dazu aufzurufen und aufzuwiegeln).

Nebenbei: Beruhigend ist ja auch, daß in Marokko ein König nicht von einem Hausmädchen gestürzt und in den Kerker geworfen werden kann, grade dann, wenn er wichtige Reformen durchsetzen möchte...

Josi